»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
gesichtslosen Bräutigam an der Seite vor dem Traualtar stehen. »Diesen Tag würde ich um nichts in der Welt versäumen«, seufzte ich.
Das war der Augenblick, als ich, die ja nicht ans Schicksal glaubte, mich fragte, ob Gott mir Georgia aus einem bestimmten Grund geschickt hatte. Wir waren Busenfreundinnen. Wir brauchten nicht im selben Job zu arbeiten, um einander auch weiterhin nahezustehen. Das Beste an einer Karriere als Flugbegleiterin ist doch, dass wir (nach der Probezeit) umsonst fliegen und ein paar Familienmitglieder und Freunde als Reisebegleiter bestimmen dürfen. Ich musste sie also nur auf meine Liste setzen, und schon konnten wir uns jederzeit sehen. Dann wäre es fast, als hätte sie nie gekündigt.
Ich war erst seit vier Monaten dabei, deshalb war ich nicht daran gewöhnt, dass so viele Menschen in mein Leben traten und wieder daraus verschwanden. Am meisten setzten mir die Abschiede zu, obwohl die für uns Flugbegleiter leider an der Tagesordnung sind. In aller Regel befinden sich mindestens 100 Passagiere an Bord einer Maschine. Bei einem Trip aus vier Teilstrecken macht das mehr als 400 Menschen, die man begrüßt und wieder verabschiedet, häufig sogar innerhalb von nicht einmal zwölf Stunden; das Ganze mal fünfzehn (die durchschnittliche Anzahl unserer Arbeitstage pro Monat), macht 6000 Menschen im Monat, sprich 72 000 Menschen pro Jahr – mindestens! Selbst die versiertesten Profis können sich nicht jedem Passagier mit derselben Hingabe widmen. Das ist schlicht unmöglich. Manchmal ist einfach nichts mehr übrig, was man einem anderen Menschen noch geben könnte. Anfangs ist es ziemlich schwer, auf Kommando präsent und aufnahmebereit zu sein und den Wechsel zwischen professioneller Aufmerksamkeit und privater Entspannung zu bewältigen, doch das lernt man schnell. Dieser ständige Wechsel hat Auswirkungen auf unser gesamtes Leben – wir können uns innerhalb kürzester Zeit von etwas oder jemandem verabschieden, und ebenso schnell sind wir offen für Neues.
So manche Unterhaltung, die ich in Bordküchen geführt habe, ähnelt dem Geplauder in einer Bar, nur schlimmer, da der Alkohol fehlt, dem man am nächsten Tag die Schuld in die Schuhe schieben kann. Was ich im Lauf der Jahre über Kollegen und Passagiere erfahren habe, ist, gelinde gesagt, schockierend. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen meiner Kollegin, doch im Landeanflug auf New York erfuhr ich alles über ihren Ex-Mann, einen Piloten, der sie nach Strich und Faden mit anderen Flugbegleiterinnen betrogen hatte. Und nun versuchte auch noch ihre Ex-Schwiegermutter, das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder zu bekommen, wobei sie den Job meiner Kollegin schamlos als Argument benutzte. Dann gab es da einen Mann, der zwar seinen Namen nicht preisgeben wollte, mir aber verriet, er habe sein erstes Mal mit einem wesentlich älteren Mann erlebt und stehe seitdem auf ältere Kerle – bevorzugt mit roten Haaren. So wie der Passagier neben ihm, auf 22B. Ganz zu schweigen von diesem Pärchen, das garantiert die Nacht im Knast verbringen würde, weil er sie schlug, nachdem sie ihm das Gesicht zerkratzt hatte, als er es gewagt hatte, in ihrer Gegenwart seine Frau anzurufen. Sie sehen also – tagtäglich prasseln unglaublich viele Dinge auf uns ein. Und am Ende heißt es stets: Tschüs, bis bald und vielen Dank, dass Sie mit uns geflogen sind.
Ich nenne es das Klappsitz-Syndrom. Und beinahe alle Flugbegleiter leiden darunter.
Es gibt kein Entrinnen. Wir gewöhnen uns so sehr daran, innerhalb kürzester Zeit einen persönlichen Kontakt zu wildfremden Menschen aufzubauen, dass sich das über kurz oder lang auch auf unsere Kommunikation am Boden auswirkt. Es kann durchaus vorkommen, dass ich »Hi« oder »Wie geht’s« sage, nur weil ich zufällig Blickkontakt mit jemand anderem aufnehme. Das mag an der Bordtür ja völlig in Ordnung sein, mitten in einem Einkaufszentrum oder einer U-Bahn aber ist es ein wenig deplatziert. In Großstädten wechseln die Leute freiwillig kaum ein Wort miteinander, es sei denn, sie kennen sich. Deshalb werden sie ganz nervös, wenden den Blick ab und gehen schnell weiter, wenn jemand sie anspricht. Für sie bin ich verrückt. Um das Gesicht zu wahren, gehe ich einfach weiter und lächle, als hätte ich mit jemand anderem gesprochen. Vielleicht bin ich tatsächlich verrückt, wer weiß? Noch schlimmer ist es, wenn ich jemandem, den ich erst ganz kurz kenne, etwas erzähle, das ich mir rückblickend
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