»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
betrachtet vielleicht für einen günstigeren Zeitpunkt oder Ort hätte aufsparen sollen. Gesundheit und Sex sind Themen, die Menschen für gewöhnlich erst ansprechen, wenn sie sich etwas näher kennen. Aber in meinem Leben gibt es nun einmal keinen günstigen Zeitpunkt und Ort, egal wofür. Deshalb reden Flugbegleiter ständig über persönliche Dinge.
Selbst im Umgang mit Passagieren sind wir offener als andere. Ich hätte keinerlei Scheu, an Bord einer Maschine wildfremde Leute nach ihrem Beruf zu fragen, während sie gerade vor der Bordtoilette Schlange stehen oder zu mir in die Bordküche kommen. Schließlich wissen sie ja, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, und erkundigen sich ebenso arglos nach meinem Hotel oder meinen Plänen für die Zeit des Aufenthalts. Natürlich drehen sich diese Unterhaltungen stets ums Reisen, man notiert Namen von Hotels und Restaurants, die man später vielleicht einmal brauchen könnte.
Am Boden hingegen laufen diese Gespräche sehr viel weniger entspannt ab, vor allem mit Männern. Wenn ich einen Mann nach seinem Beruf fragte, tat ich es, weil mich seine Arbeitszeiten interessierten und nicht etwa sein Gehalt. Als Junior-Flugbegleiterin brauchte ich jemanden an meiner Seite, der auch mal wochentags freihat, weil wir uns sonst nie hätten sehen können. Außerdem ist es immer besser, die Mitarbeiterflüge während der Woche in Anspruch zu nehmen, weil die Chancen auf zwei freie Plätze in einer Maschine dann wesentlich größer sind als am Wochenende. Allerdings werden die meisten Männer sofort hellhörig, wenn man die Unterhaltung ohne Umschweife auf den Beruf lenkt. Manche kratzen sogar sofort die Kurve. Mir machte das nichts aus, weil ich daran gewöhnt war. Ich finde es auch völlig normal, dass ich mich nach ihrem Reiseziel erkundige, auch wenn sie mich deshalb für verrückt halten. Ich will mich ja nicht an ihre Fersen heften, sondern lediglich herausfinden, ob auch ich eines Tages dorthin reisen könnte. Je mehr Menschen ich kennenlerne, umso mehr Orte gibt es, die ich gern einmal besuchen würde. Das gehört nun mal zu meiner Arbeit.
Die Aussage, als Flugbegleiter lerne man viele Menschen kennen, ist eine starke Untertreibung. Wenn ich in der Holzklasse arbeite, stehe ich nach der Landung neben der Cockpittür und verabschiede Passagiere, die ich zu 75 Prozent nicht wiedererkennen würde, obwohl ich ihnen kurz zuvor eine Mahlzeit serviert habe. Aber nicht nur Flugbegleitern geht es so. Auf einem Flug von Vancouver nach New York kam ich nach der Landung mit einem Passagier ins Gespräch. Er erzählte mir, auf dem Hinflug habe seine Maschine geschlagene drei Stunden auf der Rollbahn gestanden. Ich sah ihn verblüfft an und fragte, ob der Hinflug zufällig vor genau einer Woche gewesen sei. Er nickte. »Waren Sie etwa auch an Bord?«, wollte er wissen. In der Tat, das war ich! Wie um alles in der Welt konnten wir uns auf dem sechsstündigen Flug, der sich als neunstündiger Alptraum entpuppte, nicht bemerkt haben? Dabei war nur eine Handvoll Passagiere an Bord gewesen. Offenbar waren wir zur selben Zeit am selben Ort gewesen und hatten uns angesehen, ohne einander wirklich wahrzunehmen. So etwas passiert eben in diesem Job.
An manche Menschen erinnere ich mich aber noch ganz genau: an den zarten kleinen Jungen, der ans andere Ende der Welt flog, um sich von einem berühmten Arzt wegen seiner Krebserkrankung behandeln zu lassen. Die Therapie war seine letzte Hoffnung, und er bat mich, gemeinsam mit ihm zu beten. An das überglückliche Paar auf dem Weg nach China, das seine kleine Adoptivtochter abholen wollte, die es noch nie zuvor gesehen hatte. Die beiden hatten jahrelang auf diesen Tag gewartet. Und ich durfte an ihrem Glück teilhaben. Und an die besorgte Brautmutter, die sich bereits von den Festlichkeiten ausgeschlossen fühlte, obwohl sie noch nicht einmal begonnen hatten. Ich versuchte ihr dabei zu helfen, die Situation etwas entspannter zu betrachten. Dann gab es da noch den traurigen Komiker, der seinen Vater nach dessen Tod besser kennenlernte als zu Lebzeiten. Und den älteren Herrn, der mit seinen knorrigen Fingern den Kindern die hübschesten Origami-Figuren faltete, die ich je gesehen habe. Und als ihm die Kinder ausgingen, beschenkte er die Erwachsenen mit seinen Kunstwerken. Eine Frau nahm sogar eine ganze Schachtel voll mit, um sie im Altersheim ihrer Mutter zu verschenken. Am Anfang fiel es mir schwer, mich an all das zu gewöhnen: an
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