»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
nicht so ganz nachvollziehen konnte. Ich hatte mich nie wirklich mit ihr anfreunden können. Aber vielleicht hatte ich mich auch nicht ausreichend um sie bemüht. Wenn Agnes überhaupt einmal den Mund aufmachte, verstand ich sie kaum, und wenn ich sie ausnahmsweise verstand, wusste ich trotzdem nicht so recht, worauf sie hinauswollte. Jane fand sie beeindruckend. Ich fand sie … na ja, irgendwie seltsam. Selbst nach der zwanzigsten Erklärung konnte sie sich offenbar nicht merken, wie man Mikrowelle und Kaffeemaschine bediente. Ich glaube, der Mechanismus des Kühlschranks war ihr ebenfalls nicht vertraut, denn Agnes schien nie etwas zu essen. Bei einer Größe von eins fünfundsiebzig wog sie höchstens neunundvierzig Kilo und sah aus wie ein Model, gertenschlank und bildhübsch. Wie Grace war auch Agnes tiefgläubig, allerdings sehr still und in sich gekehrt. Mit ihrem langen, rotblonden Haar, den hellblauen Augen und dem hellen Teint sah sie so engelsgleich aus, wie sie sich gebärdete. An ihren freien Tagen blieb sie in ihrem Zimmer und zog die Lektüre eines guten Buches oder das Telefon unserer Gesellschaft vor. Sie verbrachte so gut wie keine Zeit mit uns, und wenn doch, blieb sie nie lange, denn wenn wir uns nicht gerade kabbelten oder klatschten, ließen wir uns über Dinge aus, die für ihre jungfräulichen Ohren nicht geeignet waren.
Grace war die Erste, der auffiel, dass mit Agnes etwas nicht stimmte. Wir saßen alle zusammen auf dem Sofa, als Agnes auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer in die Küche trippelte und mit einem Laib Brot, einem Glas Mayo und einem Päckchen abgepacktem Schinken wieder nach oben verschwand, ohne ein Wort mit uns zu wechseln. Jane, die sie schon einmal dabei beobachtet hatte, fragte sich, ob zwischen den heimlichen Sandwich-Ausflügen und den spätabendlichen anonymen Anrufen im Haus ein Zusammenhang bestehen könnte. Ich war davon überzeugt, dass sie eher etwas mit Tricias Stalker zu tun hatten, aber Dee Dee bezweifelte das, weil Tricia sich einige Tage zuvor mit dem Typen versöhnt hatte. Angeblich versuchten die beiden es nun wieder miteinander. Paula erzählte, sie habe in der Woche zuvor einen leeren Kinderwagen vor der Haustür stehen sehen. Dee Dee war er ebenfalls aufgefallen, aber sie hatte angenommen, er gehöre den Nachbarn, die kleine Kinder hatten. Jane glaubte das nicht. Die beiden Nachbarsjungen seien viel zu groß für einen Kinderwagen, meinte sie. Außerdem habe der Wagen neben der Mülltonne gestanden, deshalb war sie davon ausgegangen, einer von Yakovs Fahrgästen habe ihn im Taxi vergessen. Sie sei nur froh gewesen, dass er ihn wenigstens neben der richtigen Mülltonne abgestellt habe. Jane wunderte sich, wieso Yakov ihn nicht einfach ausschlachtete und mit den Ersatzteilen die kaputte Waschmaschine reparierte, sonst komme er doch auch immer auf so schräge Ideen. In diesem Augenblick kam Tricia zur Tür hereingestürmt und verkündete, sie sei gleich verabredet und müsse sich beeilen. Paula sah es gar nicht gern, dass Tricia wieder mit ihrem Stalker zusammen war, doch Grace erinnerte sie daran, dass Tricia uns gebeten habe, ihn nicht länger als den Stalker zu bezeichnen. Er heiße Steven, hatte sie uns aufgeklärt. Jane verzog das Gesicht, und Dee Dee brach in Gelächter aus, während Paula anbot, noch eine Flasche Wein aufzumachen. Als Agnes wieder auftauchte, um die Zutaten für ihr heimliches Sandwich in den Kühlschrank zurückzulegen, ergriff Grace die Initiative und erkundigte sich, was sie denn da mache.
»Oh, äh … ich hab nur Hunger«, antwortete Agnes und verschwand wieder.
Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in unserem Crashpad: Männerbesuche über Nacht waren nicht erlaubt; das galt zumindest für die Männer, die eine eigene Wohnung in New York hatten. Jane hatte diese Regel aufgestellt, nachdem Grace eines Morgens in der Küche Tricias jüngster Eroberung in die Arme gelaufen war. Grace war alles andere als begeistert gewesen, den Kerl in Unterhosen vorm Kühlschrank anzutreffen. Auch Jane hatte sich grün und blau geärgert, weil er ihre letzte Banane aufgegessen hatte. Paula war fassungslos, dass wir so ein Bohei um die Sache machten, und Dee Dee viel zu müde nach ihrem Nachtflug von Buenos Aires, um darüber nachzudenken. Wenn jemand eine Fernbeziehung führte, gab es nichts dagegen einzuwenden, dass der Partner hier übernachtete, notfalls auch mehrere Tage hintereinander. In diesem Fall konnten wir davon ausgehen, dass wir den
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