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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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junge Mensch, Johannes Gäntschow, bekam zwei tiefe, gallenbittere Falten vor Menschenverachtung, von der Nase zum Mund. Dieser gewesene Bauernjunge saß zum Platzen voll mit Unfehlbarkeit und Besserwissen. Er hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Menschen getroffen, der klüger gewesen wäre als |355| er – den alten Kammergerichtsrat Lenz vielleicht ausgenommen. Und der kam aus einer andern Welt. Immer lebte er in einer Umgebung der Durchschnittlichkeit und des Unverstandes.
    Da ging er hin und sinnierte darüber, daß die Regierung jetzt siedeln wollte. Aus den Landarbeitern sollten Bauern werden. Aber aus diesen Landarbeitern konnten noch keine Bauern werden. Es war ein knechtseliges Geschlecht, seit Dutzenden von Generationen unter der Fuchtel von Leutevögten, Inspektoren, Rittergutsbesitzern, adligen Herren. Ihnen war systematisch selbständiges Denken ausgetrieben worden, vom Urahn an hatte es immer geheißen: tue dies und tue das und tue jenes. Kein Funke erleuchtete je ihre Gehirne. Jeder kleine, verhungerte, arme Sandbauer war ihnen überlegen, denn der mußte bei der Aussaat an die Ernte denken. Sie dachten bei der Aussaat an den Feierabend.
    Sie liebten den Schnaps, die unverhüllte, grausame Zote, die Faulheit. Auf Schadeleben gab es auch eine Brennerei. Es wurde Kartoffelsprit gebrannt, ein 96%iges höllisches Zeug. Die Reichsmonopolverwaltung nahm es ab. Unter der Aufsicht von grünen Zöllnern wurde es in große Eisenfässer gefüllt. Die Fässer wurden plombiert, auf Leiterwagen geladen, zur Bahn gefahren, in Kesselwagen umgefüllt. Auf dem Bahnhof war die Umfüllvorrichtung noch ganz primitiv: die Fässer wurden in eine große, offene Wanne entleert, die mit einer Pumpe in den Kesselwagen leer gepumpt wurde.
    Einmal führte aus Versehen nur ein Zöllner die Aufsicht dabei. Stand er bei den zu öffnenden Fässern, so warfen sich die Leute bei der Wanne flach auf die Erde und soffen den Sprit, daß sie dunkelrot wurden und ihnen der Atem wegblieb. Stürzte der Zollaufseher zur Wanne, so kippten sie die schon offenen Fässer an, daß ein Strom von Alkohol über Gesicht und Brust des davor knienden Mannes sich ergoß.
    Sie waren alle sinnlos betrunken, als sie sich mit den leeren Leiterwagen auf den Heimweg machten. Nach drei Minuten kamen sie auf die Idee, eine Wettfahrt zu veranstalten. Zwölf |356| vierspännige Leiterwagen fingen an zu rasen. Sie brüllten und schlugen auf die verängstigten Pferde ein. Auf der schmalen Chaussee prallten die Wagen aneinander, daß das Holz splitterte. Leute stürzten mit zerschlagenen Köpfen ab, Wagen rannten sich an Chausseesteinen fest, Pferde stürzten. Sie johlten und grölten. Sie rasten in die Nacht hinein mit geröteten Gesichtern, stieren Augen – nicht einer kam von selbst nach Haus.
    Gäntschow, den aufgeregte Telefongespräche von dieser Todesfahrt benachrichtigt hatten, mußte eine Hilfsexpedition ausrüsten. Er fuhr los und sammelte ein. Er fand seine Leute, seine Gespanne in Kneipen, Straßengräben, auf abgelegenen Waldschneisen. Fast kein Wagen war mehr heil. Ein Pferd hatte ein Bein gebrochen, es mußte erschossen werden. Die Leute – nun ja, sie hatten Löcher im Kopf, gebrochene Knochen, zerschrammte Hände, aber es war und blieb eine herrliche Erinnerung, der schönste Tag ihres Lebens! Da sind wir einmal richtig duhn gewesen! Weißt du, wie ich geschrien habe: noch, noch, und ihr habt immer mehr gekippt, bis in den Arsch ist mir der Schnaps gelaufen!
    Wir schreiben 1921, 1922, 1923. Es sind trostlose Jahre. Was der Krieg nicht zerstört hat, zerstört die wahnsinnige Inflation. Der junge Beamte – er wird nun bald dreißig – hat ein Recht, bitter zu sein. Er ist grenzenlos einsam. Seine Arbeit ist schwer und scheint vollkommen aussichtslos. Aber es wohnt ja eine Herrschaft im Schloß Schadeleben, eine Familie von Brest, gebildete Leute, ein pensionierter Regierungsrat mit seiner Frau, einer geborenen Freiin von Laeven. Hat er an denen keine Hilfe?
    Jawohl, Hilfe. Buchstabiere es, Gäntschow: H wie Hemmung, I wie Ideenlosigkeit, L wie lachhaft, F wie Faulheit, E wie Eigennutz – so sieht eure Hilfe aus! Da weiß man nicht, wo man das Geld zur Löhnung hernehmen soll, und die kaufen sich ein neues Auto. Da hat man den Leuten Arbeit und Arbeit eingeremmelt, es hetzt, es brennt auf den Nägeln – und die kommen mit dem Viererzug aufs Feld gefahren. Eine |357| Fuhre Nichtstuer. Sie klettern lachend und kreischend von der Coach herunter,

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