Wir in drei Worten
vorbeizumanövrieren, tauschen wir einen flüchtigen Blick aus. Dieser Mann kann unmöglich Ben sein – ich hätte seine Nähe doch gespürt. Ich schaue ihm trotzdem ins Gesicht. Zuerst sehe ich nur einen Fremden, doch dann verwandelt es sich in etwas Vertrautes, und die Erkenntnis trifft mich wie ein dumpfer Schlag.
Oh. Mein. Gott. Das ist er! DAS IST ER ! Aus meiner Erinnerung hervorgeholt und nun in echt, in Farbe und HD direkt vor mir. Er trägt sein Haar nicht mehr ganz so kurzgeschnitten wie in den Jahren an der Uni, aber immer noch kurz genug, um als jobtauglich durchzugehen. Seine unverkennbaren Gesichtszüge versetzen mich sofort ein Jahrzehnt zurück. Und obwohl sich sein Wiedererscheinen fast so lange hingezogen hat wie der Fall Lord Lucan, hat Caroline recht – bei seinem Anblick stockt einem immer noch der Atem.
Der leichte, die Konturen abschwächende Babyspeck, den wir damals alle hatten, ist schärferen, charaktervollen und noch attraktiveren Gesichtszügen gewichen. Seine Augenwinkel sind von einem Netz zarter Linien umgeben, und seine Lippen wirken ein wenig härter. Seine Figur ist nicht mehr ganz so jugendlich-schlaksig wie damals.
Es ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, jemanden zu betrachten, den ich sehr gut und gleichzeitig auch überhaupt nicht kenne. Er starrt mich ebenfalls an, aber vielleicht befindet er sich auch nur in einer Zwickmühle und starrt, weil ich starre. Einen schrecklichen Augenblick lang glaube ich, dass Ben mich nicht erkennt, oder – noch schlimmer – so tut, als würde er mich nicht erkennen. Aber er ergreift nicht die Flucht. Er öffnet den Mund, und es entsteht eine kurze Pause, so als müsse er sich ins Gedächtnis rufen, wie er seine Stimme aktiviert und sein Gaumensegel zum Schwingen bringt.
»… Rachel?«
»Ben?« (Als ob ich mir nicht einen unfairen Vorsprung in diesem Quiz verschafft hätte.)
Er zieht ungläubig die Augenbrauen nach oben, aber er lächelt, und eine Welle der Erleichterung und Freude überspült mich.
»Oh, mein Gott, ich kann es kaum glauben. Wie geht es dir?«, sagt er leise, als ob unsere Stimmen bis nach oben in die Bücherei dringen könnten.
»Gut«, kiekse ich. »Und dir?«
»Mir geht es auch gut. Im Augenblick bin ich etwas perplex, aber sonst geht es mir gut.«
Wir lachen und schauen uns immer noch mit weit aufgerissenen Augen an. Das ist verrückt. Verrückter, als er sich vorstellen kann.
»Irgendwie unwirklich«, stimme ich ihm zu und taste mich vorsichtig zurück in eine Vertrautheit, so als würde ich im Dunkeln durch mein Schlafzimmer stolpern und versuchen, mich zu erinnern, wo sich alles befindet.
»Wohnst du in Manchester?«, fragt er.
»Ja. In Sale. Aber ich bin gerade dabei, ins Zentrum umzuziehen. Und du?«
»Ja. Didsbury. Ich bin letzten Monat von London hierhergezogen.« Er schwenkt seinen Aktenkoffer wie der Schatzkanzler seinen Budgetplan. »Ich bin jetzt einer dieser langweiligen Anwaltsärsche, kannst du dir das vorstellen?«
»Tatsächlich? Hast du eine Umschulung gemacht?«
»Nein. Ich bin ein Hochstapler. Irgendwann dachte ich, ich hab genug Fernsehserien gesehen, um darauf aufbauen zu können. Wie in
Catch Me If You Can.
«
Seine Miene ist ernst, und ich bin so schockiert, dass es einen Moment dauert, bis ich begreife, dass er scherzt.
»Verstehe.« Ich nicke. Und füge dann rasch hinzu: »Ich bin Journalistin. Sozusagen. Gerichtsreporterin für das Lokalblatt.«
»Ich wusste, dass du etwas aus deinem Abschluss in Englisch machen würdest.«
»So würde ich das nicht sagen. Meine Meinung über Thomas Hardy ist nicht wirklich gefragt, wenn ich über den millionsten Autodiebstahl schreibe.«
»Warum bist du hier?«
Ich zucke zusammen – das schlechte Gewissen holt mich ein.
»In der Bibliothek, meine ich«, fügt Ben hinzu.
»Oh, äh, ich bereite mich auf meinen Abendkurs vor. Ich lerne Italienisch«, erwidere ich. Es gefällt mir, dass sich das so anhört, als strebe ich nach Weiterbildung, aber innerlich krümme ich mich wegen dieser Lüge zusammen. »Und du?«
»Prüfungen. Irgendwie hört das nie auf. Aber zumindest wird man mich danach besser bezahlen.«
Die Gruppe mit den Fleecejacken strömt an uns vorbei, und mir wird klar, dass wir unsere Unterhaltung hier nicht mehr lange fortführen können.
»Äh, hast du Zeit für einen Kaffee?«, platze ich heraus, als wäre mir diese verrückte Idee eben durch den Kopf geschossen, und versteife mich vor Angst, dass er nach einer
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