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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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du vor lauter Grübeln ganz vergißt zu leben.«
    Wie unbegreiflich ihre Augen sind.
    » › Leben ‹ heißt doch …«
    Sie legt ihm den Finger auf die Lippen: »Jetzt zum Beispiel …«
    »… nach der Wahrheit suchen.«
    Fährt leicht über sein Kinn. »Jetzt habe ich gar keine Lust , die Welt zu retten , jetzt will ich einfach nur …«
    Ihre Stimme wird leiser , so daß er kaum mehr versteht , was sie sagt , ein warmer Hauch an seinem Ohr , etwas wie ein Biß , ganz leicht , während sie ihm mit der Linken den Nacken entlangstreicht. Aus den Augenwinkeln sieht er , wie sie mit der anderen Hand den Herd ausschaltet: »… ich habe es mir überlegt , ich will jetzt doch keinen Tee« , zieht ihn Richtung Bett.
    Draußen schneit es noch immer. In dem Klinikkasten gegenüber erleuchtete Fenster. Kranke und Sterbende. Die Luft wird blau , durch die Wand dringen Fernsehstimmen. Auf ihrem Schreibtisch ein Photo von ihm , wie er auf dem Heuschober in Lenza sitzt. Daneben ein Stapel seiner Briefe. Er erkennt die Umschläge: mit Regenbogen bedrucktes Umweltpapier.
    Sie zieht das Kopfkissen unter der Tagesdecke hervor , damit sie sich anlehnen können , nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände , küßt ihn – endlich darf auch er sie wieder küssen. Die Frau bestimmt. Was wird er tun , wenn sie noch viel weiter gehen … – Wenn sie ihn wirklich lieben will , gleich , ganz , grenzenlos , wie es verboten ist , von seiten der Kirche und der Spießermoral. Er wird nichts tun , um irgend etwas zu verhindern. Wohin sie auch will , er wird ihr folgen selbstwenn die Gefahr besteht , daß sie ein Kind bekommt. Er erschrickt mitten im Kuß. Diese Möglichkeit hat er nicht ernsthaft bedacht. Sie wird kein Kind bekommen. Sie ist achtzehn und er nicht ihr erster Freund. Vielleicht , wahrscheinlich , nimmt sie die Pille. Er hat keine Angst. In den Augen des Dorfes ist er spätestens seit der Sache mit Regina ein verkommenes Subjekt , und wenn sie ihn in Kahlenbeck rausschmeißen , als Todsünder , wäre es ihm gerade recht. Er will ohnehin weg , endlich ein Leben haben , das zählt.
    »Soll ich uns Musik machen?«
    Er nickt , hat keine Sprache , keine Stimme , nicht einmal mehr einen eigenen Atem. Sie beugt sich über ihn , greift nach einer Kassette auf dem Nachttisch , schiebt sie in den Spieler , drückt die Starttaste. Jemand , eine Frau , singt aus weiter Ferne , so hoch wie die Zugvögel fliegen. Eine verzauberte Melodie.
    »You’ll never know / that you had all of me /
    You’ll never know / the poetry , you’ve stirred in me …«
    So nah war Ulla ihm nie. Seine Fingerspitzen folgen dem Verlauf ihrer Wangen , wie sie sich am Jochbein verhärten , zu den Schläfen hin feinporiger werden , die winzigen Fältchen um ihre Augen , der kitzlige Haaransatz , ein bißchen wie Lachen. Lauter Wunder , nicht zu begreifen. Nie zuvor kann es für irgend jemanden auf der Welt einen solchen Moment gegeben haben. »Oh , he’s here again« , singt die Stimme vom Himmel , »the man with the child in his eyes …«
    »Dabei muß ich immer an dich denken« , flüstert Ulla , während seine Hand auf ihrem Hals kreist. Er ahnt zum ersten Mal , was ein Hals überhaupt ist , seinem inneren Wesen nach. Nach und nach wird er lernen , die verschiedenen Arten Haut blind zu unterscheiden , wie sie auf welche Berührung reagieren.
    »Schön wär’s« , murmelt er.
    »Wie meinst du?«
    »Nichts.«
    Gern wäre er der aus dem Lied gewesen , aber er muß sie enttäuschen: keine Hoffnung , daß er der Mann mit dem Kind in den Augen sein wird. Im Gegenteil , wenn er in den Spiegel schaut , sieht ihn ein Kindergesicht an mit den Augen eines verfinsterten Alten.
    »Oh , he’s here again …«
    Er will näher zu ihr hin , so nah wie es möglich ist , rutscht mit seinem Knie über ihre Schenkel , ihre Nasenspitzen berühren einander , er versinkt im schwarzen Schacht ihrer Pupillen. Sie bilden einen Ort , den er nie wieder verlassen will. Angst , daß sie plötzlich merkt – sie muß doch merken , wer der ist , den sie so nah an sich heranläßt. Es kann nicht sein , daß sie derart blind vor Liebe ist , nicht erkennt , wen sie neben sich auf dem Bett sitzen hat , während sie die Schuhe von den Füßen streift , das Kissen an seinen Platz zurückschiebt , zur Seite sinkt , ihn mit sich nimmt , immer noch in ihrem , in seinem Blick , Mund an Mund. Wieder fallen Schuhe , diesmal seine. Alles , was es sonst gibt an Gutem und Schlechtem auf dieser Welt , fällt

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