Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
mit den Geschlechtsteilen.«
»Nun , das kommt darauf an …«
Gelächter.
»Der Kuß , also besagter Zungenkuß , erzeugt Lust – darin würdest du mir doch zustimmen , oder?«
»Auf eine Art …«
»Eine Lust , die dahin tendiert , nach mehr , um nicht zu sagen , nach allem , was auf erotischem Gebiet möglich ist , zu verlangen.«
»Je nachdem. Nicht unbedingt.«
»Wenn sie nicht nach mehr verlangt , hieße das , daß die Lust des Kusses sich selbst genügt?«
»Bin ich jetzt doch wieder vor einem Inquisitionstribunal gelandet , oder was?«
»Abgesehen davon , daß die heilige Inquisition über Jahrhunderte vermutlich mehr Menschen vor der Hölle bewahrt hat als irgendeine andere Institution , geht es jetzt erst einmal darum , die Dinge begrifflich präzise zu definieren , damit wir im nächsten Schritt mit Hilfe dieser präzisen Begrifflichkeit logisch nachvollziehbare Schlüsse im Hinblick auf das sittlich Gebotene ziehen können. Also noch einmal: Du stimmst mit mir darin überein , daß ihr euch um der Lust an der Lust willen küßt.«
»Weil wir uns lieben.«
»Lieben könnt ihr euch auch , wenn jeder von euch auf einem Stuhl sitzt , mit zwei Metern Abstand dazwischen. – Ihre Augen sind doch das Schönste an ihr , hast du mir eben erklärt.«
»Weil sie wunderschöne Augen hat , soll ich sie nicht küssen? Was ist das denn für eine Logik?«
»Laut Augustinus , der in diesen Fragen zweifellos einer der scharfsinnigsten und vor allem unsentimentalsten Denker war , ist es eine schwere Sünde , Lust um der Lust willen herbeizuführen.«
»Augustinus hatte sogar einen unehelichen Sohn.«
»Eben: Wenn jemandem die Mechanik der bösen Begierde aus eigener Anschauung vertraut gewesen ist , dann dem heiligen Augustinus.«
»Aber er war nicht unfehlbar.«
»Es ist die Lust , die den Geist an die Materie kettet und verhindert , daß unsere Seele sich zu Gott emporschwingt. Solange unsere Gelüste befriedigt sind , wiegen wir uns in der Illusion , daß das irdische Dasein vollkommen ausreicht und daß wir uns weder um Gott noch um unser ewiges Heil zu kümmern brauchen. Dann bleibt man sonntags im warmen Bett bei der Freundin , statt in die Messe zu gehen , frißt , raucht , säuft … Das reicht natürlich schon bald nicht mehr. Man braucht stärkere Reize , beschafft sich Drogen , verbringt die Nächte in Diskotheken , auf der Jagd nach einer neuen Schickse , die einen unter den Rock läßt … Es ist ein Strudel , der sich immer schneller , immer wahnwitziger dreht und alles in seinen dunklen Schlund hinabreißt: Die Lust zielt auf vollkommene Entgrenzung. Sie ist sozusagen die Perversion unseres transzendentalen Verlangens nach dem Absoluten , wie es in Bernhards Lieblingsgedicht heißt , nicht wahr: Denn alle Lust will Ewigkeit / will tiefe , tiefe Ewigkeit. – Oder hat er dir das noch nicht zitiert . «
»Weiß nicht.«
»Lust ist aber per se die Lust des flüchtigen Augenblicks und somit der ewigen Freude diametral entgegengesetzt. Auf die höchsten Höhen folgt tiefste Traurigkeit: Post coitum animal triste , wie Augustinus sagt. Und diese Tristesse läßt sich nur durch neuerliche , nach Möglichkeit noch größere Ekstasen vertreiben. Deshalb führen die Wege der Libido unweigerlich in totale Selbstzerstörung. Weil es nach Gottes unergründlichem Willen aber so sein soll , daß der Mensch fruchtbar ist und sich mehrt , um die Erde zu bevölkern , findet der Paarungsakt zum Zwecke der Fortpflanzung sozusagen in göttlichem Auftrag statt , so daß die Lustbefriedigung , die damit verbunden ist , zumindest im ehelichen Rahmen lediglich eine läßliche Sünde darstellt. – Irgendeinen Gewinn muß es ja schließlich haben , daß man sich Tag für Tag den Launen einer Frau aussetzt … Von der grundsätzlichen Unappetitlichkeit des Vorgangs ganz abgesehen.«
»Sehr beruhigend.«
»Hast du die Argumentation des heiligen Augustinus verstanden?«
»Ist ja nicht schwierig.«
»Bis zur Scholastik war das allgemeine und unwidersprochene Lehre der gesamten Kirche.«
Carl friert ein Lächeln ein. Zumindest teilweise haben Augustinus und Holzkamp recht. Wenn er Ulla küßt , gleiten Formen , Empfindungen , Wünsche , Bewegungen immer weiter von der Liebe hinüber zur Gier , werden Verlangen , das jede Grenze überschreiten will. Wobei sicher nicht alle so verdorben und von ihrer Triebhaftigkeit beherrscht sind wie er. Bestimmt gibt es Leute , wahrscheinlich sogar die meisten , die den Kuß nicht
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