Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
der Erde , mit dem Photo eines Indiomädchens vor einer Müllkippe , das einen schmutzigen Säugling auf den Rücken gebunden hat.
»Es gibt so viel Leid auf der Welt« , sagt Ulla.
»Das liegt vor allem an uns.«
»Wie meinst du?«
»Wir sind die Reichen , die nur an sich denken und die Leute im Rest der Welt verhungern lassen , ohne mit der Wimper zu zucken.«
Der Aufzug hält im dritten Stock. Vom anderen Ende des Ganges dudelt Super trouper herüber. Carl ist froh , daß sie niemandem begegnen und er sich nicht als den kleinen Trottel anschauen lassen muß , der hoffnungslos in seine große Cousine verknallt ist.
Sie öffnet die Tür: »Mein bescheidenes Reich.«
Der Eingang ist eng und dunkel , wird rechts zu einer Kochnische , nur durch einen Wandvorsprung von ihrem Wohnraum getrennt. Ulla lebt in einem Bett-Schrank-Tisch-Loch , höchstens zehn Quadratmeter , kleiner als die kleinsten Einzelzimmer in Kahlenbeck. Linker Hand geht es in den Teil ihrer Mitbewohnerin. Zwischen beiden Bereichen keine Tür , nicht einmal ein Vorhang.
»Verstehst du dich gut mit deiner Kollegin?«
»Ist in Ordnung. Dadurch , daß wir Gegenschicht laufen , sehen wir uns selten.«
Er ist falsch hier , obwohl er während der vergangenen zehn Tage nichts so sehr herbeigesehnt hat wie diesen Moment , sich nicht einmal mehr in den Gottesdiensten konzentrieren konnte , rutscht in eine leere Kammer , deren Wände mit lebendigen Spiegelbildern tapeziert sind , sieht sich kniend in der Kirchenbank ; wie er Joschrupp am Ohr reißt ; einen , der sich schlaflos vor Gier hin und her wälzt ; sein verspanntes Gesicht , während Kuffel ihm den Knöchel streichelt. Und Regina , die zur Kommunion geht , ihm direkt in die Augen schaut , als wäre ihr Brief eine Lüge gewesen.
Ulla hängt seine Jacke an die Garderobe.
Wie sind all diese Vorgänge zu verstehen , in denen sich nichts so verhält , wie man denkt , daß es sich verhält , wenn zwei Menschen , die einander alles bedeuten , nach Wochen , Monaten der Trennung , des Wartens endlich zusammenkommen. Verkrampfungen. Obwohl Ulla und er sich in einem abgeschlossenen Doppelzimmer befinden und ihre Mitbewohnerin nach Hause gefahren ist , fühlt er mehr fremde Augen auf sich als je im Park. Beklemmung , wie in dem Roman 1984 , wo die Wände Ohren haben und es auf der ganzen Welt keinen Rückzugsort mehr gibt. Dieses Zimmer – der ganze Bau – ist ihnen nicht wohlgesonnen. Es ist überhaupt niemandem wohlgesonnen , nicht einmal den Kranken. Der saure Geruch alter Jungfern strömt aus den Wänden , der Boden atmet ihn aus. Gift. Bitterkeit. Ihr Leben lang haben sie versucht , ihr Verlangen auf Gott zu werfen , aber Gott hat sie verschmäht , sich in die tiefsten Tiefen Seines Universums zurückgezogen , weil von Anfang an ein Falsch in ihren Herzen war.
Wenige werden eine Heilige wie Schwester Eugenia.
Carl hält noch immer die Plastiktüte in der Hand , kramt die beiden Päckchen heraus , reicht sie ihr , ohne von ihren Augen zu lassen.
»Bitte. Für dich: nur etwas Kleines.«
Sie lacht unsicher. Schaut weg , als hätte sie Grund , seinem Blick auszuweichen , macht immer noch keine Anstalten , ihn zu umarmen. Sie stehen viel zu weit voneinander entfernt. Warum halten – warum hält sie diesen riesigen Abstand?
»Ich habe auch etwas für dich.«
Sie geht zum Schreibtisch , gibt ihm ein mit Goldbändchen verpacktes Kästchen.
Er freut und fürchtet sich. Das Geräusch hastig auseinandergerissenen Papiers unter seinen Händen. Ulla hingegen löst behutsam jeden Tesafilmstreifen ab. Ein kleiner Karton kommt zum Vorschein , darin eine Tasse , weißes Porzellan mit dem Bild zweier Goldfische , die umeinander kreisen: ein orangeroter Schleierschwanz und ein schwarzbrauner Himmelsgucker. Carl spürt einen Stich , zwingt sich zu lächeln. Er stellt sich vor , wie viel Mühe sie sich gegeben hat , etwas zu finden , das ihm Freude macht.
»Gefällt sie dir? – Ich dachte , weil du doch Fische so magst …«
Er kann ihr unmöglich sagen , daß für jemanden , der sich ernsthaft mit Ichthyologie beschäftigt , Goldfische an sich schon sinnlos sind , daß aber diese Krüppelzuchten praktisch den Tatbestand der Tierquälerei erfüllen und per Gesetz unter Strafe gestellt werden müßten , daß er den Zoohändler Miegel als › skrupellosen Geschäftemacher ‹ beschimpft hat , weil er solche Monster in seinem Laden verkauft , und sich seitdem dort nicht mehr blicken lassen kann … All das
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