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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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etwas von einer › Taumelkrankheit ‹ , die ähnliche Symptome hat. Früher hätte ich bei Miegel gefragt , aber dort brauche ich mich nicht mehr blicken zu lassen , seit ich ihn als › gewissenlosen Unterstützer widerlichster Tierquälerei ‹ beschimpft habe. Gegen die Taumelkrankheit gäbe es aber sowieso kein Mittel.
    Es wohnt also jetzt der Tod bei mir im Zimmer , und das Aquarium , das eigentlich ein Paradiesgarten im kleinen hätte sein sollen , macht alles nur noch trostloser.
    Ach liebste Ulla , entschuldige , daß ich Dich mit meinen nichtigen Problemen behellige. Ich weiß , daß das , was ich hier schreibe , ganz undankbar ist gegen Gott , der mir Dich – da bin ich sicher – an die Seite gestellt hat. Und für Dich muß es eine Zumutung sondergleichen sein , schließlich bist Du Tag für Tag mit wirklichem Leid konfrontiert. Aber außer Dir habe ich im Augenblick niemanden , der all das wirklich versteht , was in meinem wirren Kopf stattfindet.
    Bevor ich jetzt mit der nächsten Jammerorgie anfange , höre ich besser auf.
    Liebste Geliebte , Du bist mein Glück , auch wenn ich es nicht immer so spüre , wie ich es spüren sollte. Ich freue mich , wenn wir uns wiedersehen , hoffentlich nächste Woche …
    Tausend Küsse ,
    Dein Carl

III. Im Schatten des Kreuzes

Dreiundzwanzig
    Daß sie schon so lange nicht geantwortet hat , zweieinhalb Wochen , und nie zu sprechen ist , wenn er im Wohnheim anruft , welche Erklärung kann es dafür geben , außer daß sich etwas Schreckliches ereignet hat , ein Unfall oder eine schwere Krankheit. Womöglich ist sie seit Tagen tot. Warum sollten ihre Eltern ihn benachrichtigen? Sie haben nie von ihm gehört. Es kann Wochen dauern , bis sie in all dem Schmerz seine Briefe zur Hand nehmen , Carina oder Andrea nach dem Absender fragen: › Das war einer von diesen Jungen aus Kahlenbeck , die für Ursel geschwärmt haben. ‹
    Nicht einmal , daß ihr liebster Name Ulla gewesen ist , wissen sie.
    Scharfkantige Luft , der Himmel stahlblau. See und Graben von Eis bedeckt. Überall Schlittschuhläufer. Sie drehen Runden , spielen Hockey.
    Aber wenn wirklich etwas Schlimmes passiert wäre , hätte ihm das doch eine der Kolleginnen zumindest angedeutet , die das Telephon im Wohnheim abnehmen , wenn er Ulla sprechen will:
    › Tut mir leid , sie ist nicht auf ihrem Zimmer. ‹
    Das ist alles.
    Er hat versucht , Untertöne herauszuhören , Indizien für mühsam in Schach gehaltenen Schmerz oder etwas Verlegen-Verdruckstes , das vom Zurückhalten der Wahrheit herrührt , ist abwechselnd in Panik , Selbstbeschwichtigung und Wut auf diese hirnamputierten Ziegen verfallen , die ihn nur abwimmeln wollen.
    Er rutscht den Hang zur Kerme hinunter , schiebt sich am Zaun vorbei , klettert auf die Brücke , lehnt sich übers Geländer.
    Immer bedrohlichere Gesichte fallen über ihn her: Lieferwagen , die sie an der Klinikwand zerquetschen ; lebensgefährliche Infektionen mit Krankenhauskeimen ; einer , den sie nicht lieben konnte , dieser Albrecht zum Beispiel , ist ausgerastet , hat ihr etwas angetan. Lipschitz hätte davon erfahren. Aber Lipschitz weiß nicht , daß er mit Ulla zusammen ist , weshalb sollte er es ihm erzählen?
    In der Mitte ist die Kerme eisfrei. Eine Schauminsel hat sich losgerissen , treibt langsam fort. Nicht nur im Graben , auch hier wird Abwasser eingeleitet. Unter der Brücke , damit es nicht auffällt. Roter Algenschleim überzieht den Grund. Ein abgestorbenes Rinnsal , als läge die Apokalypse schon hinter ihnen. Vor anderthalb Jahren schwammen dort noch Stichlinge. Der Präses glaubt , daß Umweltschutz eine Sache von Langhaarigen und Steinewerfern ist , die aus Moskau bezahlt werden.
    Er würde nicht von Unfall oder Tod ausgehen , sagt Bart , und Carl ist froh , daß er ihm seinen Rückzug während der zurückliegenden Wochen nicht nachträgt. Aus Barts Sicht gibt es drei Möglichkeiten: Erstens , Ulla schafft es zur Zeit einfach nicht zu schreiben , wegen der Arbeitsbelastung oder weil sie für die Berufsschule lernen muß. Zweitens , ihre Briefe werden tatsächlich in der Verwaltung abgefangen , wobei er das trotz allem nicht annimmt. Drittens , sie will ihn nicht mehr und denkt , wenn sie einfach gar nicht reagiert , wird er es irgendwann kapieren , ohne daß sie deutlich werden muß. Bart hatte vergangenen Herbst eine Freundin , die sich , nachdem sie zwei Monate zusammen gewesen sind , so lange am Telephon von ihren Eltern hat verleugnen lassen , bis er

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