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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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nicht mehr angerufen hat.
    Carl kann sich nicht vorstellen , daß Ulla ihn derart feige abserviert. Insgeheim ist es seine größte Angst. Aber dafür hätte es doch Anzeichen geben müssen. Irgend etwas wäre ihm aufgefallen bei ihrem letzten Treffen im Park. Sie kann ihm unmöglich anderthalb Stunden lang vorgespielt haben , daß alles in Ordnung ist , während ihre Liebe in Wirklichkeit schon tot war. Nichts hat darauf hingedeutet , im Gegenteil: Wenn es nicht so eisig gewesen wäre , hätte sie ihn näher an sich herangelassen als je zuvor. Sie haben nach Möglichkeiten gesucht , einen Teil der Osterferien gemeinsam zu verbringen , ohne daß seine oder ihre Eltern etwas merken. Ulla wollte sich erkundigen , ob irgendwo ein Kirchentag oder ein Jugendtreffen stattfindet , wo sie unabhängig voneinander hinfahren könnten.
    Carl starrt in die Ferne , stellt sich vor , wie es wäre , stumm zu weinen: gefrierende Tränen auf seiner Wangenhaut. Wiesen , Bäume , Dächer sind mit Rauhreif überzogen. Vor einem Unterstand stehen dicke Pferde , ihr Atem dampft. Seine Verzweiflung erstickt an sich selbst. So ähnlich muß es sich anfühlen , wenn der Mensch , den man liebt , gestorben ist und man plötzlich begreift , daß sich daran nichts ändert , ganz gleich , wie laut man schreit und den Gott anklagt , der all das verfügt hat.
    Nach dem Abendessen wird er sich wieder in die Schlange vor der Telephonzelle einreihen. Diesmal wird er direkt fragen , wen auch immer er am Apparat hat: › Geht es Ulla gut? Bitte , sag mir , was mit ihr ist , ob etwas nicht stimmt , ich muß es wissen , ich bin ihr Freund. ‹
    Er schaut auf die Uhr. In einer Viertelstunde beginnt das Silentium. Bis dahin muß er auf dem Zimmer sein , sonst riskiert er Strafdienst. Bei den derzeitigen Temperaturen frieren einem die Finger am Besenstiel binnen zehn Minuten ab. Er will nicht zurück ins Collegium , will weder Erziehern begegnen noch anderen Schülern , auf keinen Fall reden.
    Er nimmt den Weg um das Gelände herum , so bleiben noch zehn Minuten im Freien.
    Die Tennisplätze sind mit schwarzen Planen abgedeckt. Auf den Gemüsefeldern vor der Kirche gammelt Kohl. Zwei alte Nonnen gehen spazieren , bleiben in der efeuüberwucherten Laube stehen , gestikulieren , setzen ihren Weg fort. Er biegt rechts auf die Straße von Forch Richtung Grenze. Auf dem Fahrradweg zwei Quartaner , die Ausgang hatten. Zwischen den Bäumen segnet der Steingregor aus weißem Marmor unter der dreifachen Papstkrone die vorbeifahrenden Wagen. Aus dem Schulgebäude das erste Klingeln. Carl kickt einen Stein aufs Eis.
    Hinter der Hecke vor dem Parkplatz ein schwarzer Schatten , richtet sich auf , tritt keine fünf Meter vor ihm auf den gepflasterten Weg , in der Hand eine leere Zigarettenpackung , zerknülltes Papier. Carl erstarrt zwischen zwei Schritten. Der sinnlose Reflex sich umzudrehen.
    »Carl« , sagt der Präses , »komm mal her.«
    Er fühlt sich schuldig , obwohl er nichts Verbotenes getan hat , jedenfalls nichts , was der Präses gesehen haben könnte.
    »Wer macht so etwas? Den Abfall einfach hier hinwerfen. Was sollen die Leute denken , die zum ersten Mal in Kahlenbeck sind?«
    »Ich ärgere mich auch immer , wenn ich im Wald bin und überall Müll herumliegt. Manche laden ihren Schrott in den Kofferraum , alte Reifen , kaputte Waschmaschinen , und kippen ihn irgendwohin. Am liebsten da , wo die Natur besonders unberührt ist.«
    »Schlimm.«
    Carl will weg , fürchtet , daß der Präses spürt , was in seinem Herzen ist: Angst um Ulla , die Liebe , ungeordnetes Verlangen. Aber dem Präses kann man nicht einfach sagen , › Ich muß los , bis später ‹ – auch fünf Minuten vor Beginn des Silentiums nicht. Der Präses ist Herr über das Silentium.
    »Ich weiß , daß du so etwas nicht tust , Carl.«
    »Vielleicht kann man mal eine Waldaufräumaktion machen , für Freiwillige , samstagnachmittags oder so.«
    Der Präses ist kaum noch größer als er , aber Carl fühlt sich neben ihm nicht wie einer , der gewachsen ist.
    »Du hast dich mit Bernhard Kuffel angefreundet.«
    »Wir wohnen gegenüber.«
    »Ich bin froh , daß wir ihn aufgenommen haben. Ein guter Junge. Sehr tapfer. Im Elternhaus stand er mit seiner Liebe zu Christus ganz allein da und hat sich trotzdem nicht beirren lassen.«
    Carl fragt sich , ob der Präses weiß , daß Kuffel zu den Invertierten , den Mann-Männern gehört , und ob er denkt , daß zwischen ihnen irgendwelche Sachen

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