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Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Titel: Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Peters
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Carl.«
    »Wenn du meinst , daß du besser zurechtkommst ohne mich , verstehe ich das. Ich kann mich auch schwer ertragen.«
    »Bitte sag das nicht. So darfst du es auf keinen Fall verstehen. Ich lehne dich nicht als Person ab oder als Mensch , im Gegenteil , du bist genau richtig , das habe ich doch gerade versucht , dir zu erklären.«
    »Sondern?«
    »Es kommt halt etwas hinzu , was ich dir lieber erspart hätte , deshalb stand es nicht in dem Brief. Vielleicht war ich einfach zu feige oder hatte ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich ist es besser , wenn du es weißt , und früher oder später hättest du es sowieso erfahren. Es ist , daß … Jemand anderer , den ich hier kennengelernt habe , hat sich in mich verliebt.«
    »Verstehe.«
    »Und ich mich auch in ihn.«
    »Klar.«
    »Ich wollte dich aber auf keinen Fall betrügen. Das wäre nicht fair gewesen. Aber man kann euch ja nicht anrufen in dem Scheiß-Kahlenbeck , deshalb habe ich dir den Brief geschrieben , wo ich das alles viel besser in Worte gefaßt habe , bevor ich mich auf etwas … Bevor ich ihm so nahe gekommen bin , daß es mit uns , also mit dir und mir , nicht mehr zu vereinbaren gewesen wäre. Aber es kam keine Antwort von dir …«
    »Ich hab’ dir jeden Tag geschrieben und im Wohnheim angerufen , haben dir deine Kolleginnen das nicht ausgerichtet?«
    »Ich dachte , du willst es vielleicht einfach nicht wahrhaben.«
    »Und wer?«
    »Spielt doch keine Rolle.«
    »Ich wüßte es gerne.«
    »Aber …«
    »Daß ich wenigstens den Namen kenne.«
    »Christian. Das ist der Pfleger , von dem ich dir erzählt hatte.«

Vierundzwanzig
    »Jesus , Sohn Gottes , erbarme Dich unser , Jesus , Sohn Gottes , erbarme Dich unser , erbarme Dich unser , erbarme Dich , erbarme Dich …«
    Kalte Luft zieht durch die Butzenscheiben. Seine Knie schmerzen. Vor dem Tabernakel flackert das ewige Licht im roten Glaszylinder. Der Herr ist anwesend , wahrhaft anwesend , hört , muß doch hören , wie er Ihn ruft , nach Ihm schreit: »Mach es ungeschehen , mach es ungeschehen , laß es nicht passiert sein. Kein Brief ist verschwunden , es hat gar keinen Brief gegeben , den jemand hätte verschwinden lassen können , nichts beweist , daß sie gesagt hat , was sie gesagt hat , es war nur ein böser Traum. Nimm es zurück , ich flehe Dich an , Herr , lösch es aus , Du bist der Schöpfer aller Dinge , bei Dir ist nichts unmöglich.«
    Unmittelbar vor ihm das Vesperbild aus rohem Eichenholz: die erstarrten Züge Mariens , während sie den leblosen Körper wiegt , im unruhigen Schein der Kerzen. Fünfzig Pfennig das Stück , stecken sie in Reihen auf dem geschmiedeten Halter , entzündet gegen blaue Briefe , für kranke Mütter und Väter , verstorbene Großeltern , damit die heilige Maria Mutter Gottes Verschonung oder Aufschub erwirkt , und wenn weder Verschonung noch Aufschub gewährt werden können , dann wenigstens den Schmerz lindert , ihn zudeckt mit ihrem eigenen Schmerz angesichts des hingerichteten Gottes- und Menschensohns auf ihrem Schoß , aufgequollenes , zerschundenes Fleisch , von Nägeln , Lanzen , Geißelriemen zerfetzt , und das Schwert durchdringt ihre Seele , wie Simeon es prophezeit hat.
    Aber dereinst wird sie zur Himmelskönigin gekrönt.
    Dahinter , schräg rechts an der Wand , die beiden Kästen aus dem Passionsaltar , die Präses Roghmann und der Kunstlehrer Hans Heinrich Terbrüggen vor Weihnachten in Utrecht ersteigert haben. Kleinteilige Figuren treten aus dem Dunkel hervor , schälen sich aus schwarzem Grund , schimmern in allen Nuancen von Gold , dazwischen rote , grüne , blaue Gewänder , aus denen vor Eifer erhitzte Gesichter ragen. In der Mitte , von allen verlassen , der entblößte Körper des Herrn , seine bleiche Haut.
    »Wenn es nicht rückgängig gemacht , nicht ausgelöscht werden kann , mein Gott , weil es vor Beginn der Zeit in Deinem ewigen Ratschluß festgeschrieben ist , um mich zu prüfen , zu strafen , dann hilf , verlaß mich nicht – führe mich heraus aus dieser Hölle.«
    Nicht mein Wille – Dein Wille geschehe.
    Blut , überall Blut , man kann es fast riechen. Es spritzt auf die Brokatroben der Pharisäer , des Hohepriesters , die es gefordert haben , weil ihr Gesetz es verlangt ; in die Visagen des gaffenden Pöbels ; es rinnt die ziselierten Rüstungen der Legionäre hinunter , die ihm lachend das Fleisch von den Rippen prügeln , Blut auf dem Fell des weißen Hundes , der Glatze des krummnasigen Landsknechts. Mit aller

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