Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
lutsche.«
»Was wollte er?«
»Ernsthaft. – Ich mein’ , bin ich aus Gummi , oder was?«
Sechs
Das Fenster nach Norden. Abendlicht färbt zum Horizont gestaffelte Wolkenbänder über dem Wald. Vereinzelte Autos auf der Straße nach Forch. Unten , vor dem Graben , wird Tennis gespielt. Wahrscheinlich Krüger , der von einer Karriere als Profi träumt. Der Schläger trifft den Ball , der Ball springt ab. Turnschuhe , die über Asche rutschen , das Scheppern von Maschendraht , Stimmen: »War sowieso aus.«
»Nie im Leben war der aus.«
»War aus.«
Das Zimmer wird durch eine Regalwand geteilt. Dort , wo keine Bücher oder Schallplatten eingestellt sind , spannt sich Sackleinen über die Fächer , darauf , mit Stecknadeln befestigt , Bilder von Fischen: Skalare , Prachtschmerlen , ein Pfauenaugenbuntbarsch. Außerdem Vermeers Briefleserin im hellblauen Kleid und Renoirs Lise mit dem Sonnenschirm aus dem Folkwang Museum. Lise ähnelt so sehr dem Mädchen aus der Küche , deren Namen er nicht kennt , daß die Postkarte fast so gut ist wie ein Photo von ihr.
Davor , auf einer Konstruktion aus Ytongsteinen und Tischlerplatten , steht seit fünf Tagen das Aquarium , vollständig eingerichtet mit Pflanzen , Moorkienwurzel , Steinaufbauten. Noch ohne Fische: Das Becken braucht zwei Wochen , bis sich ausreichend Bakterien im Kiesgrund und in der Filteranlage angesiedelt haben , um die Wasserverhältnisse stabil zu halten. Er hat eine Sondergenehmigung dafür bekommen. Grundsätzlich sind Tiere auf den Zimmern verboten , aber in Haus Aventin hält einer Schildkröten , Eging hat einen Laubfrosch.
Carl nimmt die Kanne vom Stövchen , gießt sich Tee ein. Die Kandisbrocken knistern , während sie auf den Boden der Schale sinken , dazu ein trockener Rest Honigkuchen , zu wenig für seinen riesigen Hunger.
Natürlich kann man seine Fische mit Flocken und Pellets ernähren , doch Lebendfutter wäre besser , vor allem , wenn man züchten will.
»Hast du noch Kekse?«
Guntram , der den vorderen Teil des Zimmers bewohnt , sitzt am Schreibtisch , hat Kopfhörer auf den Ohren , eine Partitur vor sich , dirigiert , hört nichts.
»Hast du noch irgend etwas Eßbares , Guntram?«
Streckt die Hand aus , als würde er einen Angreifer stoppen , zischt »psst« , schüttelt den Kopf , ohne von den Noten aufzuschauen.
Fast immer geht es um Essen. Oder um Mädchen – Frauen. Dann erst Gott. Eigentlich müßte es umgekehrt sein: › Du sollst den Herrn , deinen Gott , lieben mit ganzem Herzen , mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken ‹ : Das ist das wichtigste und erste Gebot. ‹
› Ein Mann Gottes ist Herr über sein Fleisch ‹ , hat der Präses vergangenen Sonntag in der Predigt gesagt , als es um die wunderbare Brotvermehrung ging. › Er ißt nur aus Bescheidenheit – weil er die Menschen um sich herum nicht beschämen möchte , nicht , weil es notwendig wäre. Manche Heilige haben jahrelang nichts zu sich genommen außer dem Leib des Herrn. Nicht um zu prahlen , sondern um Gottes Ruhm zu mehren. ‹
Wenn es je einen Heiligen dieser Kategorie unter den Chorherren von Kahlenbeck gegeben hat , dürfte ihm der Verzicht leicht gefallen sein , bei dem Fraß –
Böse Gedanken , undankbare Gedanken. Täglich werden es mehr , Carls Kopf läuft über davon.
Undankbarkeit ist der Hauptcharakterzug der jungen Menschen heutzutage , sagt Spiritual Krohkes: gegenüber den Eltern , den Lehrern , vor allem aber Gott gegenüber , der sie in Seiner unendlichen Güte mit Nahrung versorgt. Wenn sie wüßten , was es bedeutet , Hunger zu leiden , würden sie nicht so abschätzig über die gute Küche der Schwestern reden , sie würden auch nicht ihr gesamtes Taschengeld in holländische Pommes-frites-Buden tragen , sondern es mit den Armen in der dritten Welt teilen.
So gesehen ist es auch ein Zeichen für Egoismus und Überflußgesellschaft , sich den Kopf über die Ernährung von Fischen zu zerbrechen , anstatt sich das Elend der Straßenkinder von Lima oder Kalkutta vor Augen zu führen , die in Kupferminen arbeiten , bis sie tot umfallen , oder sich auf Müllhalden vom Abfall ernähren.
Der Macropodus opercularis ( Linneus , 1758 ), zu deutsch Paradiesfisch , ist einer der ersten tropischen Zierfische gewesen , die nach Europa importiert wurden , und er gehört noch immer zu den schönsten und beliebtesten Arten .
Seit das Aquarium dort steht , sieht Carl eine Zukunft vor sich , die sich lohnt. Er wird neue Erkenntnisse
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