Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Oberbaum , jedenfalls sagt sie: »Dann hoffen wir mal , daß alle heil und gesund zurückkommen.«
Er kennt den künstlich gut gelaunten Ton der Mutter , wenn sie Angst hat. Sie gibt sich äußerste Mühe , kein bißchen besorgt zu klingen. Niemand soll wissen , wie es in ihrem Innern aussieht , dabei ist sie fest davon überzeugt , ihn schon bald an den Tod zu verlieren , am liebsten würde sie heulen.
»Es sind ja genug erfahrene Bergsteiger dabei« , sagt der Vater.
Carl haßt Familienabschiede schon unter normalen Umständen. Jetzt aber steht dort , keine zehn Meter von ihm entfernt , sie , Ursula oder Usch , Ulla , und damit ist zum ersten Mal die reale Möglichkeit gegeben , daß sie ihn sieht. Nicht nur sieht , sondern wahrnimmt , sich seine Züge einprägt , darüber nachdenkt , wer der Mensch dahinter sein könnte , den Wunsch verspürt , ihn kennenzulernen , mit ihm zu reden , einfach so für den Anfang. Dann liegt es an ihm , was darauf folgt. Er kann in dieser Situation unmöglich auf die Stimmungslagen der Mutter eingehen und ist nicht willens , den artigen Sohn eines guten Vaters zu spielen. Daß sie ihn als Kind dieser Leute identifiziert , die weder dem Auftreten nach noch in ihrer Weltsicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm haben , ist peinlich genug. Welchen Gesichtsausdruck soll er wählen , alle sind falsch. Carl muß seine Gedanken unter Kontrolle bringen. Der Präses darf keinesfalls merken , was in ihm vorgeht. Es ist nicht auszuschließen , daß Frau Maxius recht hat: Als heiligmäßiger Mann ist der Präses mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet. Sie sagt das als Naturwissenschaftlerin. Auch wenn er davon vielleicht nicht ständig Gebrauch macht: Er kann den Menschen ins Herz schauen. Carl schielt zu ihm hinüber. Der Präses hört sich Frau Egings Gequassel an , wie erschüttert sie vom Attentat auf den Heiligen Vater war , daß sie tagelang kaum etwas anderes hat tun können als weinen und beten , vor allem zur Muttergottes , die der Papst ja ausdrücklich zur Schutzherrin seines Pontifikats gewählt hat.
Carl ist nicht in der Lage , einen Gedanken zu fassen. Er zwingt seinen Blick in Bewegung zu bleiben , nicht auf Ursel-Uschs Gesicht innezuhalten , zumindest nicht , solange der Präses ihm gegenübersteht. Bis jetzt hat sie ihn nicht bewußt zur Kenntnis genommen. Sie hat auch nicht bemerkt , daß sich vor wenigen Minuten alle Vorzeichen für die Reise von Grund auf verändert haben: Es wird nicht um das Vergessen gehen , nicht um die Flucht vor den Dorfdeppen ; nicht um den Kampf mit dem Satan und nicht um den Aufstieg der Seele zu Gott.
Statt dessen werden sie zusammen in die Schweiz fahren , drei Wochen unter demselben Dach verbringen , gemeinsam vor dem Heuschober sitzen , Wasser aus dem steinernen Trog trinken , Raclette essen. Weshalb sonst sollte sie an einem Sonntagnachmittag in den Ferien mit ihren Eltern auf dem Parkplatz des Collegium Gregorianum Kahlenbeck beim Bus stehen und warten? Jedes Jahr sind zwei Mädchen aus dem Abschlußjahrgang des Hauswirtschaftszweigs dabei , um die Obernonne Pankratia und Schwester Adelgundis zu unterstützen. Sie hat sich gemeldet und wurde ausgewählt. Seitens der Schwestern gab es keine Einwände. Das bedeutet , daß sie während der vergangenen drei Jahre nichts mit einem Schüler gehabt hat. Die Küchenmädchen , für die das Briefgeheimnis sicher ebensowenig gilt wie für Schüler , leben so eng mit den Nonnen zusammen , daß eine Liebe sich kaum auf Dauer verbergen läßt. Es ist auch kein Freund von außerhalb gekommen , um sich von ihr zu verabschieden. Sie lacht , schlägt die Hände vor den Mund , verdreht die Augen. Ihm bleibt das Herz stehen , als sie ihn streifen.
Carl glaubt nicht an Zufall. Auch der Präses glaubt nicht an Zufall. Zufall nennen die Heiden das , dessen Herkunft oder Ursache für ihre beschränkte Sicht im Verborgenen bleibt. Der Christ weiß , daß sein Leben , daß die gesamte Schöpfung dem göttlichen Plan folgt. Das Grundprinzip dieses Plans ist die allumfassende Liebe. Wenn der große und gütige Gott jeden Namen fest in Seine Hand eingeschrieben hat , muß es auch Sein ewiger Ratschluß gewesen sein , daß sie , Ursula-Ulla , heute nachmittag hier steht. Bei Regina war es anders. Regina glich den schönen , unschuldigen Frauen in Romanen. Weil sie klassische Musik liebte und als einziges Mädchen in Henneward nie bei Wochenenddiscos und Kirmesbesäufnissen auftauchte , hat er geglaubt , daß
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