Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
zum letzten Mal. Und ich will nicht sterben.«
Mein Vater zeigte den Narkonon-Bossen eine Bescheinigung. Da stand drauf, dass er mich hier rausholen durfte. Meine Mutter hatte ihn dazu ermächtigt. Der Narkononchef sagte, da sei nichts zu machen, ich müsse mit meinem Vater gehen. Sie könnten mich gegen den Willen meines Vaters nicht dabehalten.
Der Boss sagte noch, ich solle meine Übungen nicht vergessen. Immer konfrontieren. Konfrontieren war so ein Zauberwort von denen. Man sollte alles konfrontieren. Ich dachte: Ihr seid doch Idioten. Da ist doch nichts zu konfrontieren für mich. Ich muss sterben. Ich halte das doch nicht aus. Nach spätestens zwei Wochen mache ich mir doch wieder einen Druck. Das schaffe ich nicht. Ich packe das allein nie. Das war so einer der wenigen Momente, in denen ich meine Situation ziemlich klar sah. In meiner Verzweiflung redete ich mir allerdings ein, dass Narkonon echt die Rettung für mich gewesen wäre. Ich heulte vor Wut und vor Verzweiflung. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr einkriegen.
Christianes Mutter
Ich hielt es keineswegs für eine gelungene Lösung, dass mein geschiedener Mann nun nach dem Reinfall bei Narkonon Christiane zu sich nahm, um sie endlich zur Räson zu bringen, wie er sagte. Abgesehen davon, dass er nicht rund um die Uhr auf sie aufpassen konnte, hatte ich auch wegen des Verhältnisses zwischen ihm und mir sozusagen seelische Verdauungsschwierigkeiten, ihm Christiane zu überlassen. Zumal ihre Schwester kurz zuvor wieder zu mir zurückgekommen war, weil ihr Vater so streng mit ihr umging.
Doch ich wusste nicht mehr weiter und hoffte: Vielleicht schafft er mit seinen Methoden, was mir nicht gelungen ist. Ich will aber auch nicht ausschließen, dass ich mir das nur eingeredet habe, um vorübergehend aus der Verantwortung für Christiane zu flüchten. Seit ihrem ersten Entzug war ich permanent in einem Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung. Ich war seelisch und körperlich am Ende, als ich ihren Vater bat, sich einzuschalten.
Schon drei Wochen nach dem ersten Entzug, den Christiane mit Detlef zu Hause qualvoll durchgestanden hatte, traf mich der erste Rückfall wie ein Genickschlag. Die Polizei rief in der Firma an, sie hätten Christiane aufgegriffen, auf dem Bahnhof Zoo. Ich solle sie abholen.
Ich saß an meinem Schreibtisch und zitterte. Alle zwei Minuten schaute ich auf die Uhr, ob es bald vier ist. Ich wagte nicht, vor Feierabend zu gehen. Ich konnte mich niemandem anvertrauen. Die beiden Cheftöchter hätten mich in Grund und Boden verdammt. Auf einmal verstand ich Detlefs Vater. Man schämt sich doch sehr am Anfang.
Auf dem Polizeirevier hatte Christiane noch ganz verschwollene Augen, so hatte sie geweint. Der Polizist zeigte mir den frischen Einstich in ihrem Arm und meinte, sie sei in »eindeutiger Position« auf dem Bahnhof festgenommen worden.
Ich konnte mir unter »eindeutiger Position« zunächst nichts vorstellen. Vielleicht wollte ich mir auch nichts vorstellen. Christiane war todunglücklich, dass sie wieder rückfällig geworden war. Wir entzogen von neuem. Ohne Detlef. Sie blieb auch zu Hause und schien ganz bei der Sache zu sein. Ich fasste mir ein Herz und weihte in der Schule ihren Kerngruppenleiter ein. Der war erschrocken und bedankte sich für meine Offenheit. Von anderen Eltern, sagte er, sei er das nicht gewohnt. Er vermutete, dass es an der Schule noch mehr Heroinsüchtige gebe, und er hätte Christiane auch gerne geholfen. Er wusste aber nicht wie.
Es war immer dasselbe. Wen ich auch ansprach – entweder waren die Leute so hilflos wie ich oder sie hatten Menschen wie Christiane total abgeschrieben. Das musste ich später noch oft genug erleben.
Langsam sah ich auch, wie leicht die Jugendlichen an das Heroin herankommen. Schon auf ihrem Schulweg, am Hermannplatz in Neukölln, lauerten die Dealer. Ich dachte, ich höre nicht richtig, als Christiane sogar in meiner Gegenwart während eines Einkaufsbummels von einem dieser Typen angesprochen wurde. Zum Teil waren es Ausländer, aber auch Deutsche. Sie erzählte mir auch, woher sie diese Leute kennt: »Der dealt mit dem, und der verkauft das, und der macht jenes.«
Mir kam das alles total irrsinnig vor. Ich dachte, wo leben wir eigentlich?
Ich wollte Christiane umschulen in eine Realschule am Lausitzer Platz, um wenigstens diesen Schulweg zu vermeiden. Die Osterferien standen kurz bevor und hinterher wollte ich sie auf der Realschule haben. Ich hoffte, ich kann sie
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