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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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doch er kümmerte sich nicht darum, und sein glückliches Lächeln trug dazu bei, dass wir uns besser fühlten.
    Der Dienstag, 17. April, begann mit noch mehr Tumult. Es war ein wunderschöner Tag. Die Fenster des Schlafraums standen weit offen, um die warme, frische Luft hereinzulassen. Schon früh am Morgen fuhren an unserer Baracke Lastwagen mit Leichen vorbei, auf denen auch ein paar SS-Männer saßen. Die Lastwagen fuhren zum Massengrab neben dem Krematorium. Inzwischen war ein großer Bagger gekommen und grub ein zweites Massengrab direkt vor meinem Fenster. Etwa vierzig ungarische Soldaten marschierten an unserer Baracke vorbei und bekamen den Befehl, sich in zwei Reihen aufzustellen. Ein englischer Offizier beaufsichtigte das, was wie ein Zählappell aussah. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte, aber das Ganze ging noch eine Stunde weiter, bis die Soldaten in Richtung Leichenhaus davonmarschierten.
    Als die Grube für das Massengrab groß genug war, kam ein Lastwagen mit verwesenden Leichen, zwischen denen sechs SS-Männer saßen. Sie bekamen den Befehl, die Leichen abzuladen und in das Massengrab zu werfen. Die englischen Bewacher waren sichtlich angespannt und wütend über die Verbrechen, die die Deutschen begangen hatten. Wenn sich ein SS-Mann nicht schnell genug bewegte oder beim Transport der Leichen einen Arm fallen ließ, schlugen sie mit dem Gewehrkolben auf ihn ein und schrien: »Vorsichtig, sei vorsichtig.« Den SS-Männern war anzusehen, unter welchem Druck sie standen. Ihre früher so makellosen Uniformen waren schmutzig und in Unordnung.
    Ein SS-Mann trug noch immer seine Mütze, was einen Engländer direkt vor meinem Fenster so wütend machte, dass er ihm die Mütze mit einem Hieb seines Gewehrkolbens herunterschlug und nur knapp den Kopf des Mannes verfehlte. Die Mütze flog taumelnd durch die Luft und landete auf meinem Fensterbrett. Als der Engländer das sah, kam er zu meinem Fenster und stieß die Mütze, nachdem er mich begrüßt hatte, mit seiner Gewehrspitze hinunter.
    Den ganzen Tag über brachten die SS-Offiziere verwesende Leichen zum Massengrab. Diese Männer, die in der ganzen Zeit einen sicheren Abstand von all dem Entsetzlichen und Makabren gehalten hatten, auch um sich ja nicht anzustecken, standen nun knietief zwischen den faulig riechenden, verwesenden Körpern.
    Ich war nur Zeugin der Beerdigung vor meinem Fenster, aber später erfuhr ich, dass die Engländer am Leichenhaus den SS-Männern beim Aufladen der Leichen manchmal ordentlich was übergezogen hatten, auch, wenn sie die Leichen nicht mit genug Respekt behandelten.
    Eine der Häftlingsfrauen entdeckte Dr. Fritz Klein unter den SS-Männern. Sie rief ihm zu: »Dr. Klein, wie fühlt es sich an, wenn man am anderen Ende des Stocks ist?«
    Er antwortete: »Wart's nur ab, eines Tages wirst du wieder bei mir in Auschwitz sein.«
    Dieser fanatische Unmensch würde seine Niederlage nie akzeptieren.
    Dr. Klein war in Auschwitz für medizinische Experimente verantwortlich gewesen, wo er Gefangene als Versuchskaninchen benutzt hatte. Er trug auch die Verantwortung für Selektionen, bei denen entschieden wurde, ob Gefangene noch arbeitsfähig waren oder in die Gaskammern gingen. Später wurde er von einem britischen Militärgericht in Lüneburg zum Tod durch den Strang verurteilt.
    Am nächsten Morgen wurde die Beerdigung der Leichen fortgesetzt, aber die Engländer schlugen die SS-Männer nicht mehr, entsprechend der Order ihrer Vorgesetzten und der Genfer Konvention. Schade. Die Häftlinge hatten den Anblick genossen.
    Am Vormittag kam Schwester Luba zu mir. Sie hatte ein Stück Papier in der Hand, auf dem eine Nachricht auf Deutsch stand. Sie erzählte mir, dass Maximilian, unser Wohltäter, sich im Latrinenblock neben unserer Baracke versteckt hielt. Sie brauchte Zivilkleidung für ihn, damit er fliehen konnte.
    »Er hat uns früher geholfen und jetzt müssen wir ihm helfen«, sagte sie.
    Ich sagte, ich hätte nur noch ein paar Hemden meines Vaters, suchte in meinem Regal und fand sie bald. Sie ging weg, und etwa zehn Minuten später sah ich durch die offene Tür, wie Maximilian durch den Korridor schlich. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke, als er verstohlen hereinschaute. Er sah schlampig und schmutzig aus, aber vor allem verängstigt. Wie sehr er sich seit dem letzten Mal verändert hatte. Damals war er ein mächtiger, arroganter Mann gewesen, der über Leben und Tod entscheiden konnte. Nun war er nur noch

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