Wir Kinder von Bergen-Belsen
Befreiern zu knüpfen. Die kleineren Kinder blieben zurück und spielten im Hof. Im Lauf des Vormittags kamen Schwester Luba und Schwester Hermina und schauten, wie es uns ging. Sie blieben nicht lange, denn sie wollten zur Küche gehen, auf der Suche nach etwas zu essen. Wir hatten seit zwei Tagen nichts mehr bekommen. Am frühen Morgen hatte es Tee gegeben, und die heiße, süße Flüssigkeit hatte geschmeckt, »als lande ein Engel auf der Zunge«, wie mein Onkel Max es immer ausgedrückt hatte. Man konnte die heilende Wirkung fühlen, als die Wärme sich im leeren Magen ausbreitete.
Ich erholte mich langsamer als die meisten anderen und war zufrieden, in dem nun ruhigen Schlafraum im Bett zu liegen. Es musste um die Mittagszeit sein, als ich meinen ersten Besuch von unseren Befreiern bekam. Umringt von einigen Kindern kam er zu meinem Bett und stellte sich als Pfarrer Ted Aplin vor, aus Kanada. Die Verständigung war schwierig, da ich nicht Englisch sprach.
Er fragte mich, ob ich okay sei.
Ich verstand »okay« und nickte. Dann fragte er mich etwas über Leni. Ich konnte ihm nicht antworten. Dass es um Leni ging, hatte ich nur verstanden, weil er auf sie deutete.
»Das ist Leni«, sagte ich.
Er betrachtete sie und ich konnte das Mitleid in seinen Augen sehen. Unsere Leni sah so zerbrechlich aus, sie war nur noch Haut und Knochen. Ein Fotograf kam herein und der Pfarrer bedeutete ihm, ein Foto von Leni zu machen. Jackie, der auf der unteren Pritsche saß, reckte den Hals, um auch auf das Bild zu kommen. Der Fotograf machte noch ein paar Aufnahmen, dann ging er. Die Kinder, die mit dem Pfarrer und dem Fotografen hereingekommen waren, um zu sehen, was passierte, verließen den Schlafraum nun ebenfalls wieder, um draußen zu spielen. Das Wetter war mild, der Himmel so grau wie üblich.
Etwa eine Stunde später kam Max ganz aufgeregt herein, begleitet von einem großen englischen Soldaten, der ein rotes Barett trug, das Kennzeichen der Fallschirmjäger, wie ich später erfuhr. »Hetty, das ist Max Monash und er ist ein Cousin von Papa.«
»Wirklich?«, fragte ich den lächelnden Soldaten, der einen schwarzen Schnurrbart und warme, braune Augen hatte.
»Ja«, sagte er, »ich glaube schon. Euer Vater ist Maurice, nicht wahr?«
Ich nickte. Meine Augen erforschten sein Gesicht nach einer Familienähnlichkeit, entdeckten aber keine. Max Monash stellte mir viele Fragen nach meinem Vater und über den Aufenthalt anderer Familienmitglieder. Ich konnte nur sagen, dass ich nicht wusste, was mit ihnen geschehen war. Etwa eine halbe Stunde später ging er wieder, begleitet von Iesie und Max. Er hatte versprochen, am nächsten Tag wieder zu kommen. Und er hatte mir noch eine große Tafel Schokolade gegeben, die ich mit einigen der Kinder teilte.
Als der Schlafraum wieder ruhig geworden war, erkannte ich, dass mich das gesunde, an den Aufenthalt im Freien erinnernde Aussehen Max Monashs am meisten beeindruckt hatte. Er hatte so sauber ausgesehen und durch den offenen Hemdausschnitt hatte ich einen Blick auf die Kette mit seinem Namen und auf das goldene Chaj werfen können.
Ich wünschte, ich wäre kräftig genug, um aufzustehen, dachte ich. Draußen schien alles Mögliche zu passieren.
Am nächsten Tag kam Max Monash wieder, wie er versprochen hatte. Er wurde von einigen Leuten vom Roten Kreuz begleitet. Unter ihnen befanden sich auch ein junger Niederländer namens Jaap Ebeling Koning und eine hübsche niederländische Krankenschwester. Alle anderen waren Engländer. Jaaps charismatische Ausstrahlung führte dazu, dass sich sofort etliche Kinder um ihn drängten. Sie berührten ihn, um sicher zu sein, dass er wirklich da war, und fragten ihn alles Mögliche durcheinander. Jaap ging wunderbar mit den Kindern um und gab allen Schokolade, nicht ohne sie zu warnen, zu viel auf einmal zu essen.
Nach einer Weile sagte er zu den gesunden Kindern, sie sollten hinausgehen, spielen, denn die Kranken brauchten Ruhe und Erholung. Dann kam er zu meinem Bett und fragte, wie es mir gehe.
Was für ein freundlicher und wunderbarer Mensch er war. Er war ungefähr zwanzig Jahre alt und hatte sich, nachdem der Süden der Niederlande befreit worden war, den Sanitätern angeschlossen. Sein offenes Lächeln zeigte uns, dass man ihm trauen konnte. Er blieb länger als die anderen. Die Lebensbedingungen in unserer Baracke hatten sich nicht verbessert und der Geruch nach Krankheit und ungewaschenen Körpern muss ekelerregend gewesen sein,
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