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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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verlassen. Wir leisteten ihr Gesellschaft und brachten ihr abwechselnd ihre tägliche Scheibe Brot. Das arme Mädchen konnte kaum mehr essen und wurde immer schwächer. Folgsam kaute sie ein paar Bissen Brot, aber manchmal war ihr auch diese Anstrengung zu viel. Bella, die am geduldigsten war, versuchte jeden Morgen, Leni zu füttern, und durfte, mit unserer Erlaubnis, den Rest des Brotes essen, den Le-ni nicht herunterbrachte. Bella hob es immer für ihren Bruder Bram auf, der uns jeden Tag besuchte und der, obwohl er nicht über Nacht bleiben durfte, zu einem Mitglied unserer Gruppe geworden war.
    Es war immer jemand neben Lenis Bett, und wir halfen ihr herunter, damit sie den Topf benutzen konnte. Es war mitleiderregend, zu sehen, wie knochig sie war, aber sie beklagte sich nie. Leni war so schwach, dass ihr der Darm aus dem Körper trat, wenn sie den Topf benutzte. Wenn das passierte, ergriff uns Panik. Wir wollten Leni jeden Schmerz und jedes Unbehagen ersparen. Schwester Zosua oder Helen kamen dann und halfen. So vorsichtig wie möglich drückten sie zusammen, was von Lenis Pobacken übrig war, und zwangen den Darm zurück in ihren Körper. Wir fühlten uns dann so hilflos, waren aber immer bereit, Leni zurück in ihr Bett zu helfen. Wir waren so jung, aber auch so weise. Im Laufe der Zeit gewöhnten wir uns daran, anderen kleinen Kindern zu helfen, die durch die Unterernährung ebenfalls ihren Mastdarm nicht mehr halten konnten. Gerrie C. war besonders geschickt, und er wurde immer gerufen, wenn der zweijährige Gerrie v. P. dieses Problem hatte.
    In der dritten Märzwoche kamen Judie und Loukie zu mir, um mir zu sagen, dass Jackie sehr krank war. Ich ging sofort zu seinem Bett, um mich selbst von seinem Zustand zu überzeugen. Jackie döste, doch als ich seinen Namen rief, richtete er sich mühsam auf und blickte mich aus fiebrig glänzenden Augen an.
    »Wie geht es dir, Jackie?«, fragte ich. »Bist du sehr krank?«
    »Ich fühle mich nicht so wohl«, sagte er. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Kannst du mir ein bisschen Wasser bringen?«
    »Natürlich«, sagte ich. Ich drehte mich zu Loukie und beauftragte ihn, sofort Wasser für Jackie zu besorgen. Zu Jackie sagte ich, er solle sich hinlegen, während ich ihm eine Aspirintablette holte, von denen ich immer noch ein paar in meinem Regal hatte. Als Jackie wieder ruhig dalag, bat ich Judie, auf ihn aufzupassen, weil ich mit Schwester Luba zur Küche gehen müsse. Doch als ich ins Esszimmer kam, war sie schon mit Iesie und Gerrie losgegangen. Es war mir egal, denn draußen war es eiskalt. Ich ging zurück zu meinem Bett, von wo aus ich ein Auge auf Jackie haben und beobachten konnte, was draußen passierte.
    Der Leichenberg wuchs jeden Tag höher. Das Essen wurde immer knapper. Maximilian, unser SS-Wohltäter, hatte uns ein paar Säcke mit Mehl besorgt, die in der Nacht gebracht worden waren. Schwester Hella, Maria und die Hexe hatten kleine Knödel davon gekocht, nachts, um nicht von der SS entdeckt zu werden. Das Problem war nur gewesen, wie man den Ofen im Esszimmer am Brennen halten konnte, um die Mehlbällchen in Wasser zu kochen. Bei allen Pritschen im Schlafraum fehlten bereits Bretter, denn sie waren unser einziges Heizmaterial für den Ofen. Der Topf, den wir früher als Nachttopf benutzt hatten, war sauber geschrubbt worden und diente jetzt dazu, die Knödel zu kochen. Niemand dachte sich etwas dabei, dass wir den Topf nun auch zum Essenkochen benutzten.
    Ich wollte noch einmal nach Jackie schauen, kletterte von meinem Bett und ging zu ihm. Loukie stand neben ihm und trat zur Seite, um mir Platz zu machen.
    In diesem Moment hörten wir Lärm aus dem Esszimmer. Alle im Schlafraum erstarrten, aus Angst vor einer vielleicht drohenden Gefahr. Die Tür des Schlafraums wurde aufgerissen, und herein stürmte Rau, der Arbeitsführer. Sein Gesicht war verzerrt, in seinen Mundwinkeln stand Schaum. Er brüllte: »Verbrecher! Schweine!«, und begann, mit einem Gummiknüppel auf uns einzuschlagen. Mit erhobenem Arm schaute er mir direkt in die Augen, als er mit dem Knüppel zuschlug. In seinem Arger verfehlte er mich, traf aber stattdessen den armen Loukie direkt auf den Kopf. Ich hörte, wie Loukie die Luft ausstieß, als er unter dem brutalen Angriff zusammenbrach. Panik brach im Schlafraum aus, aber plötzlich war alles ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Rau war gegangen, wir konnten ihn noch im Korridor schreien hören, als er die Baracke

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