Wir kommen von der Presse
dürfen, können wir dem Doktor zuliebe ja mal diese Frau Dorsch besuchen. Er war doch nett zu uns, nicht?«
»Finde ich auch«, sagte Ute. Erst jetzt fiel ihr auf, daß der Arzt ihnen ein richtiges Interview gegeben hatte. Aber es war ihr nicht eingefallen, das Gespräch mit dem
Recorder aufzunehmen. Schnell schaltete sie den Apparat ein und sprach ein paar Sätze ins Mikrofon, um wenigstens das Wichtigste nachträglich festzuhalten.
»Und ich Dussel«, stellte Klaus ärgerlich fest, »hab’ gar nicht daran gedacht, ihn zu knipsen! Dabei hätt’ ich hier eine fabelhafte Aufnahme machen können. Manchmal sind wir zwei doch ausgesprochen dämliche Reporter!« So eine Panne wollten sie sich heute nicht noch einmal leisten. Deshalb gingen sie im Krankenhausgarten gleich mit offener Kameratasche und eingeschaltetem Recorder auf die Frau zu, die ihnen der Arzt gezeigt hatte. »Guten Tag, Frau Dorsch. Wir kommen von der Presse und möchten mal was fragen«, sagte Klaus.
Da die Frau sie erstaunt anschaute, fügte Ute schnell hinzu: »Wir haben von Doktor — ach, wie hieß er überhaupt? Also, der hat uns jedenfalls erzählt, Sie seien längere Zeit krank gewesen. Aber nun sind Sie endlich wieder gesund. Und da möchten wir gern mal wissen, wie Sie sich fühlen, so kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus.«
»Ungefähr so frei und froh«, antwortete Frau Dorsch lachend, »wie Hans im Glück, als er die schweren Schleifsteine losgeworden war.«
»War es eine schlimme Zeit hier im Krankenhaus?« fragte Klaus, der noch nie ernstlich krank gewesen war. »O ja, die ersten Wochen waren schon schlimm«, erzählte die ältere Frau. »Ganz elend habe ich mich gefühlt, und die Tage und Nächte sind mir schier endlos vorgekommen. Aber dann fing ich an, mir dies und jenes zu überlegen, über dies und jenes nachzudenken. Der gute Doktor Braun, der euch wohl zu mir schickte, hat mir beim Nachdenken manches Mal sehr geholfen. Ich weiß jetzt vieles, was ich vor meiner Krankheit nicht wußte. Dabei hatte ich mir immer eingebildet, ziemlich viel zu wissen.« Und Frau Dorsch erzählte, was sie durch ihre Krankheit alles dazugelernt hatte.
Eines Tages zum Beispiel hatte sie gemerkt, daß es so vieles gibt, worüber man sich freuen kann, vieles, was sie vorher kaum beachtet hatte. Etwa der mächtige Ahorn im Krankenhausgarten. Sah er nicht aus wie ein König unter den Bäumen ringsherum? Oder das Sträußchen, das ihr Doktor Braun einmal in die Hand gedrückt hatte. Es waren ganz gewöhnliche Kamillen. Aber ihr Duft! War der nicht wie Sommer und Sonne und Wiese und Wind zugleich?
»Und eines frühen Abends«, erzählte Frau Dorsch weiter, »kam ein kleines Mädchen. Es brachte uns Kranken ein Ständchen auf der Blockflöte. Ich hatte ganz vergessen, wie hübsch ein einfaches Lied klingen kann. Zum Schluß spielte das Mädchen ein wunderschönes Abendlied. Ob ihr’s glaubt oder nicht: In der Nacht darauf hab’ ich so gut geschlafen wie schon seit langem nicht mehr. Und zwar ohne Schlafmittel.«
»Doch, doch«, sagte Ute, und Klaus nickte ein wenig nachdenklich. Dann wollte er wissen, was Frau Dorsch während ihrer Krankheit sonst noch gelernt habe.
Die Frau überlegte kurz. »Ach ja, jetzt fällt mir etwas Wichtiges ein: Wißt ihr, was ein verdorbener Tag ist? Das ist ein Tag, an dem man sich überhaupt nicht gefreut und nicht ein einziges Mal gelacht hat.«
»Haben Sie sich denn heute schon über etwas gefreut?« fragte Ute und hielt der Frau das Mikrofon hin.
»Heute? Ja, zuerst hab’ ich mich heute morgen über mich selber gefreut, daß es mir weiterhin besser geht. Und darüber, daß mir mein Frühstück schmeckte. Und jetzt hab’ ich mich über euren Besuch gefreut und über das Interview, das ihr mit mir gemacht habt.«
Dann aber erlebten die Kinder etwas, das ihnen bisher noch nicht passiert war: Mit liebenswürdigem Lächeln nahm Frau Dorsch Ute das Mikrofon einfach aus der Hand und erklärte, jetzt wolle sie auch einmal Reporterin sein. »Ich habe gleich gemerkt«, sprach sie ins Mikrofon, »daß ihr im Befragen von Leuten schon einige Übung habt. Ihr seid überhaupt nicht scheu oder schüchtern. Es würde die Leser meiner Zeitung sicherlich interessieren, was ihr als Reporter schon alles erlebt habt. Bestimmt habt ihr manches gesehen und gehört, wovon andere Kinder in eurem Alter keine Ahnung haben. Nicht wahr?« Sie hielt Klaus das Mikrofon hin und nickte ihm zu.
»Ich weiß nicht«, sagte er verblüfft.
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