Wir lassen sie verhungern
haben.
Sie ist von ihren wichtigsten Abteilungsleitern umgeben, lauter Männern mit beeindruckenden Schnurrbärten.
An der Wand hinter ihrem Schreibtisch entdecke ich die berühmte Fotografie, die Mahatma Gandhi am 28. Januar 1948 beim Gebet zeigt, zwei Tage vor seiner Ermordung; darunter die Worte:
His legacy is courage
His bound truth
His weapon love
(Sein Vermächtnis ist Mut,
sein Horizont Wahrheit,
seine Waffe Liebe.)
Die District Controllerin beantwortet unsere Fragen mit äußerster Vorsicht, als misstraue sie ihren schnurrbärtigen Mitarbeitern.
Wie immer ist das Programm sehr vollgepackt. Schon bald verabschieden wir uns. Während der drei folgenden Tage besichtigen wir die Dörfer und die Felder des Distrikts. In Gwalior werden wir bereits erwartet. Und wir sind schon schlafen gegangen, als die Empfangsdame des Hotels mich weckt.
Unten erwarte mich eine Besucherin – die District Controllerin von Shivpur.
Ich wecke Christophe Golay und Sally-Ann Way.
Dann erzählt uns Mrs. Gheeta bis zum Morgengrauen die wahre Geschichte ihres Distrikts.
Die Regierung in Neu-Delhi hat sie aufgefordert, das neue Gesetz über die Agrarreform durchzusetzen und das Land, das die Großgrundbesitzer brachliegen lassen, an die Tagelöhner zu verteilen. Sie soll auch gegen Zwangsarbeit und Sklaverei vorgehen, Ermittlungen einleiten und Geldstrafen gegen die Großgrundbesitzer verhängen.
Im Rahmen einer Feierstunde händigt sie den Landarbeitern ohne Boden regelmäßig Besitzurkunden über solche nicht genutzten Flächen aus. Doch sobald ein Dalit (ein Kastenloser), einer der Ärmsten der Armen aus der verachtetsten sozialen Gruppe Indiens, versucht, seine Parzelle (ein Hektar landwirtschaftlich nutzbares Land pro Familie), in Besitz zu nehmen, wird er von den Milizen der Großgrundbesitzer davongejagt, manchmal auch ermordet, wobei die Killer ohne Zögern ganze Familien auslöschen, Hütten niederbrennen und Brunnen vergiften.
Wie nicht anders zu erwarten, verlieren sich die von der District Controllerin eingeleiteten Ermittlungen meist im Treibsand der Verwaltung. Viele dieser Großgrundbesitzer unterhalten nützliche Beziehungen zu irgendwelchen Mitgliedern der Regierung von Madhya Pradesh in Bhopal oder zu Bundesministern in Neu-Delhi.
Die District Controllerin war den Tränen nahe.
Angesichts dieser Verhältnisse kommt dem Kampf um die Justiziabilität des Menschenrechts auf Nahrung in Indien besondere Bedeutung zu.
Indien hat das Recht auf Leben in seine Verfassung geschrieben. Nach Rechtsprechung des Obersten Gerichts schließt das Recht auf Leben das Recht auf Nahrung ein. Im Laufe der letzten zehn Jahre ist diese Auffassung von mehreren Urteilen bestätigt worden. 150
Nach einer mehr als fünfjährigen Trockenheit kam es 2001 im halbwüstenartigen Bundesstaat Rajasthan zu einer Hungersnot. Die für ganz Indien zuständige staatliche Gesellschaft Food Corporation of India sollte Soforthilfe leisten. Zu diesem Zweck hatte sie in ihren Depots in Rajasthan einige Zehntausend Sack Weizen gelagert. Doch wie allgemein bekannt, sind in Rajasthan viele Vertreter der Food Corporation of India korrupt. Die staatliche Gesellschaft beschloss 2001, ihre Vorräte unter Verschluss zu halten, damit die einheimischen Händler ihren Weizen zum höchstmöglichen Preis verkaufen konnten.
Daraufhin schritt das Oberste Gericht ein. Es befahl die sofortige Öffnung der staatlichen Depots und die Verteilung des Weizens an die hungernden Familien. Interessant ist die Begründung des Urteils vom 20. August 2001:
»Dem Gericht geht es darum, dass die Armen, die Notleidenden [ destitutes ] und alle anderen schutzlosen Bevölkerungsgruppen weder der Unterernährung noch dem Hungertod ausgesetzt werden … Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben der zentralen und der bundesstaatlichen Regierung, eine Wiederholung dieser Vorgänge zu verhindern … Das Gericht verlangt lediglich, dass das im Überfluss vorhandene Getreide aus den zahlreichen Depots nicht ins Meer geschüttet oder den Ratten zum Fraß überlassen wird … Jede andere Vorgehensweise ist verwerflich. Wichtig ist allein, dass die Nahrung die Hungernden erreicht.« 151
Einer der korruptesten Staaten der indischen Union ist Orissa. Seine Regierung hat in den Neunzigerjahren Tausende Hektar Ackerboden enteignet, um den Fluss Mahanadi mittels einer Reihe von Dämmen und Stauseen für die Stromerzeugung zu nutzen. Im Zuge dieses Projekts hat die Polizei Tausende von
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