Wir lassen sie verhungern
Staaten vor, ihn zu bekämpfen. Doch nach ihrer Ansicht kann nur der freie Markt die Geißel besiegen: Sobald man die Produktivität der Weltlandwirtschaft durch Totalliberalisierung und Totalprivatisierung maximal gesteigert habe, sei der Zugang zu angemessener, ausreichender und regelmäßiger Nahrung automatisch gesichert. Der endlich befreite Markt werde seine Wohltaten wie einen Goldregen über der Menschheit ausgießen.
Heute bestimmen WTO, IWF und Weltbank die wirtschaftlichen Beziehungen, die die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals zu den Völkern des Südens unterhalten. In der Agrarpolitik unterwerfen sich diese Organisationen faktisch den Interessen der transkontinentalen Konzerne. Deshalb spielen FAO und WFP, die ursprünglich einmal mit dem Kampf gegen extreme Armut und Hunger beauftragt waren, im Vergleich zu diesen Organisationen nur noch eine marginale Rolle.
Um zu ermessen, wie tief der Graben ist, der die Feinde und die Fürsprecher des Rechts auf Nahrung trennt, sollten wir betrachten, welche Haltung die Vereinigten Staaten zum Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt Nr. 1) einnehmen und welche Verpflichtungen tatsächlich aus ihm erwachsen.
Die Vereinigten Staaten haben sich stets geweigert, ihn zu ratifizieren. WTO und IWF bekämpfen ihn.
Die Signatarstaaten sind drei verschiedene Verpflichtungen eingegangen. Erstens müssen sie für einen jeden Bewohner ihres Staatsgebietes das Recht auf Nahrung »anerkennen«. Das heißt, sie dürfen nichts tun, was die Wahrnehmung dieses Rechtes schmälern könnte.
Nehmen wir zum Beispiel Indien. Die Wirtschaft dieses Landes hängt auch heute noch weitgehend von der Landwirtschaft ab: 70 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land. Laut dem 2011 veröffentlichten »Bericht über die menschliche Entwicklung« des UNDP gibt es in Indien im Verhältnis zu seiner Bevölkerung, aber auch in absoluten Zahlen die meisten schwerst und permanent unterernährten Kinder der Welt, mehr als in allen subsaharischen Ländern Afrikas zusammen.
Ein Drittel aller in Indien geborenen Kinder sind untergewichtig, was darauf schließen lässt, dass auch ihre Mütter stark unterernährt sind. Jedes Jahr erleiden dort Millionen Säuglinge infolge von Unterernährung irreparable Hirnschäden, und weitere Millionen Kinder unter zwei Jahren verhungern.
Nach Auskunft des indischen Landwirtschaftsministers Sharad Pawar haben von 1997 bis 2005 mehr als 150000 arme Bauern Selbstmord begangen, um sich aus dem Würgegriff der Schulden zu befreien. 2010 nahmen sich allein in den indischen Bundesstaaten Orissa, Madhya Pradesh, Bihar und Uttar Pradesh mehr als 11000 überschuldete Bauern das Leben – meist indem sie Pestizide schluckten. 149 Die Bauernorganisation Ekta Parishad weist auf die schreckliche Ironie hin, die darin liegt, dass der Bauer sich mit dem Stoff umbringt, der für seine Überschuldung verantwortlich ist.
Im August habe ich im Rahmen meines Mandats als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung mit meinem kleinen Team von wissenschaftlichen Mitarbeitern eine Mission in Shivpur, Madhya Pradesh, durchgeführt. Shivpur ist der Name einer Stadt und eines Distrikts; letzterer umfasst etwa 1000 Dörfer, in denen jeweils 300 bis 2000 Familien leben.
Im Distrikt Shivpur ist die Erde schwer und fruchtbar, der Waldbestand herrlich. Trotzdem herrschen schreckliche Armut und schockierende Ungleichheit.
Bis zur Unabhängigkeit Indiens war das ins Gangestal geschmiegte Shivpur die Sommerresidenz der Maharadschas von Gwalior. Aus der Glanzzeit der Scindia-Dynastie stammt ein prunkvoller, aus Ziegelsteinen erbauter Palast, ein Polofeld und vor allem ein 900 Quadratkilometer großer Naturpark, der von frei lebenden Pfauen und Hirschen bevölkert ist. Außerdem gibt es Krokodile in einem künstlichen See und Tiger in einem Käfig.
Aber der Distrikt wird noch heute von einer Kaste besonders mitleidloser Großgrundbesitzer beherrscht.
Der District Controller , dessen Kompetenzen in etwa denen eines deutschen Landrats entsprechen, ist Mrs. Gheeta, eine aus Kerala stammende, schöne Frau von vierunddreißig Jahren, mit mattem Teint, tiefschwarzem Haar und strahlenden Augen. Sie trägt einen gelben, mit schmalen, roten Streifen gesäumten Sari.
Ich spüre sofort, dass diese Frau nichts mit den Funktionären zu tun hat, die wir am Tag zuvor in der Hauptstadt Bhopal gesprochen
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