Wir lassen sie verhungern
Bauernfamilien ohne Entschädigung von ihrem Land verjagt.
Daraufhin hat die NGO Right to food Campaign (Indische Kampagne für das Recht auf Nahrung), unterstützt von namhaften Anwälten und Bauerngewerkschaftern, beim Obersten Gericht in Neu-Delhi Klage eingereicht. Die Richter haben den Bundesstaat Orissa dazu verurteilt, die enteigneten Bauern »angemessen zu entschädigen«.
Das Gericht hat auch ausgeführt, was es unter einer »angemessenen Entschädigung« verstand: Da die indische Währung eine hohe Inflationsrate aufweise, könne die Entschädigung nicht finanzieller Art sein. Der Staat Orissa müsse die enteigneten Bauern mit Land entschädigen, das hinsichtlich Fläche, Nutzbarkeit, Fruchtbarkeit, Bodenbeschaffenheit und Verkehrsanbindung an die Märkte den enteigneten Ländereien entspreche.
Im Allgemeinen verkündet der Oberste Gerichtshof äußerst detaillierte Urteile. Er legt in allen Einzelheiten dar, was ein verurteilter Bundesstaat an Wiedergutmachung zu leisten hat, wenn er gegen das Recht auf Nahrung seiner Einwohner verstoßen hat.
Um die Durchführung dieser Maßnahmen zu überwachen, setzt der Gerichtshof spezielle Beamte ein, die weder Richter noch Rechtspfleger sind, sondern vereidigte Commissioners (Bevollmächtigte). Manchmal müssen sie jahrelang die Durchführung der Wiedergutmachungsmaßnahmen überwachen, zu denen der Bundesstaat verurteilt wurde.
Erinnern wir uns: Mehr als ein Drittel aller schwerst und dauerhaft unterernährten Menschen lebt in Indien. Die enteigneten Bauern – meist Analphabeten und die Ärmsten der Armen – besitzen natürlich weder das Geld noch die juristischen Kenntnisse, um als Kläger auftreten und – selbst wenn sie von Pflichtanwälten vertreten werden – jahrelange komplizierte Prozesse führen zu können.
Aus diesem Grund lässt das Oberste Gericht Class Actions , »Sammelklagen«, zu. An den Sammelklagen der Bauern beteiligen sich zivilgesellschaftliche Bewegungen, religiöse Gemeinschaften und Gewerkschaften, die selbst nicht zu den Geschädigten gehören. Diese Organisationen haben genügend Geld, Erfahrung und politisches Gewicht, um die juristischen Auseinandersetzungen führen zu können.
Eine weitere juristische Waffe, die eine Besonderheit der indischen Justiz darstellt, steht den Betroffenen zur Verfügung: die Public Interest Litigation 152 , der Prozess im öffentlichen Interesse. Auf diese Weise »hat jeder Bürger … das Recht, sich an ein zuständiges Gericht zu wenden, wenn er sich in seinen von der Verfassung garantierten Grundrechten verletzt oder bedroht fühlt«.
Da in Indien das Recht auf Nahrung ein verfassungsmäßig garantiertes Recht ist, kann jeder – selbst wenn er nicht unmittelbar betroffen ist – gegen eine Verletzung dieses Rechts Klage einreichen. Die Klagezulässigkeit erklärt sich aus dem »öffentlichen Interesse«. Mit einem Wort, jeder indische Bürger hat ein »Interesse« daran, dass alle Menschenrechte, also auch das Recht auf Nahrung, überall und ständig von der öffentlichen Gewalt anerkannt werden. 153
Dank dem öffentlichen Interesse besitzt diese Klage große praktische Bedeutung. In Staaten wie Bihar, Orissa oder Madhya Pradesh liegt praktisch die ganze Macht der Verwaltung und Justiz in den Händen der höheren Kasten. Viele ihrer Vertreter sind korrupt bis auf die Knochen. Den Daliten und den Stammesleuten, den Angehörigen der Waldstämme, begegnen sie mit grenzenloser Verachtung.
Die enteigneten Bauern werden von den Ministern, Polizeioffizieren und örtlichen Richtern oft terrorisiert.
Colin Gonsalves, einer der Organisatoren der Right to Food Campaign berichtet, wie unvorstellbar schwierig es für ihn ist, die Familienväter, denen man widerrechtlich ihre Hütten, Brunnen und Parzellen genommen hat, dazu zu bringen, Klage einzureichen und vor den örtlichen Richter zu treten. Die Bauern zittern vor den Brahmanen.
Doch fortan kann der räuberische Staat dank der Einrichtung der Public Interest Litigation auch ohne Einwilligung der betroffenen Bauern zur Verantwortung gezogen werden.
Besonders aktiv ist das Oberste Gericht in Madhya Pradesh. Im Jahr 2000 sind 11000 Bauernfamilien durch die bundesstaatliche Regierung von ihrem Land gejagt worden, weil Staudämme gebaut und Bodenschätze erschlossen werden sollten. In Hazaribagh sind Tausende Familien enteignet worden, weil der Staat ihr Land für eine Kohlenmine brauchte. Der Bau des riesigen Narmada-Staudamms hat mehrere Tausend
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