Wir lassen sie verhungern
Familien ihrer Subsistenzmittel beraubt. Gegenwärtig sind ihre Klagen auf materielle und finanzielle Entschädigungen bei Gericht anhängig.
Wenn ich an die ländlichen Gebiete von Madhya Pradesh denke, kommen mir die zu Skeletten abgemagerten Kinder mit den großen erstaunten Augen in den Sinn – »erstaunt über so viel Leid«, wie Edmond Kaiser 154 nicht ohne Sarkasmus schrieb. Für diese gastfreundlichen, herzlichen Menschen von Madhya Pradesh (einem der bedürftigsten Staaten Indiens) nimmt die Suche nach einer Handvoll Reis, einer Zwiebel, einem Stück Fladenbrot Tag für Tag ihre ganze Energie in Anspruch.
Der Pakt der Vereinten Nationen über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte erlegt jedem Teilnehmerstaat noch eine zweite Verpflichtung auf: Er muss das Recht seiner Bürger auf Nahrung nicht nur »anerkennen«, sondern es auch gegen Verletzungen durch Dritte »schützen«.
Wenn Dritte das Recht auf Nahrung missachten, muss der Staat einschreiten, um seine Bürger zu schützen und das verletzte Recht wiederherzustellen.
Betrachten wir das Beispiel Südafrika. Als Teil der Verfassung genießt das Recht auf Nahrung dort einen besonders umfassenden Schutz.
In Südafrika gibt es eine nationale Menschenrechtskommission, die paritätisch mit Vertretern staatlicher Organisationen und der Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Kirchen, Frauenbewegungen etc.) besetzt ist. Diese Kommission kann – wenn das Recht auf Nahrung einer Bevölkerungsgruppe verletzt wird – jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz, jede von der Regierung verordnete Maßnahme, jede Entscheidung einer Behörde oder jede Vorgehensweise eines Privatunternehmens vor dem Verfassungsgericht in Pretoria oder vor den obersten Provinzgerichten Südafrikas anfechten.
Die südafrikanische Rechtsprechung ist vorbildlich.
Das Recht auf Trinkwasser gehört zum Recht auf Nahrung.
Die Stadt Johannesburg hatte ihre Trinkwasserversorgung an einen multinationalen Konzern verkauft. Anschließend hatte dieses Unternehmen den Wasserpreis massiv erhöht. Vielen Bewohnern der Armenviertel, die die exorbitanten Preise nicht zahlen konnten, wurde das fließende Wasser, über das sie bisher verfügt hatten, vom Betreiber abgestellt. Da dieser im Übrigen bei Trinkwassermengen von mehr als 25 Litern pro Tag Vorkasse verlangte, waren zahlreiche mittellose Familien gezwungen, sich ihr Wasser aus Bewässerungsgräben, verschmutzten Bächen oder Tümpeln zu holen.
Von der Kommission unterstützt, zogen daraufhin fünf Bewohner des Elendsviertels Phiri in Soweto vor das Oberste Gericht.
Und sie gewannen den Prozess.
Die Stadt Johannesburg wurde gezwungen, die herkömmliche öffentliche Trinkwasserversorgung zu erschwinglichen Preisen wiederherzustellen. 155
Artikel 11 des Pakts über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte legt eine dritte Verpflichtung für jeden Signatarstaat fest: Wenn eine Bevölkerung von einer Hungersnot heimgesucht wird und wenn der betroffene Staat nicht in der Lage ist, die Katastrophe mit eigenen Mitteln zu bekämpfen, muss er die internationale Gemeinschaft um Hilfe anrufen. Macht er das nicht oder nur mit vorsätzlicher Verzögerung, verletzt er das Recht seiner Bürger auf Nahrung.
2006 brach eine – durch Heuschrecken und Trockenheit verursachte – schreckliche Hungersnot in der Mitte und im Süden Nigers aus.
Viele Getreidehändler weigerten sich kategorisch, ihre Vorräte auf den Markt zu werfen. Sie warteten darauf, dass der Mangel sich verschärfte und die Preise stiegen. Daher befand ich mich im Juli 2006 auf einer Mission im Büro des Präsidenten der Republik.
Oberst Mamadou Tandja, eingehüllt in einen prachtvollen blauen Umhang, in den Augen kalte Arroganz, leugnete das Offensichtliche. Er war Komplize der Getreidehändler. Erst als der Fernsehsender CNN, die Ärzte ohne Grenzen und die Action contre la faim die Weltöffentlichkeit mobilisierten und Kofi Annan persönlich eine dreitätige Reise nach Maradi und Zinder unternahm, bequemte sich die nigerische Regierung endlich, ein formelles Hilfsersuchen an das WFP zu stellen.
Als die ersten Lastwagen mit Reis- und Mehlsäcken und Wasserkanistern endlich in Niamey eintrafen, waren schon Tausende von Frauen, Männern und Kindern gestorben.
Das beunruhigte Tandja natürlich nicht im Geringsten, denn die Überlebenden hatten keine Möglichkeit, die Gründe für seine Untätigkeit untersuchen zu lassen oder gerichtlich gegen ihn
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