Wir lassen sie verhungern
Distribution System (PDS) 167 der Exekutive. Worum handelt es sich?
1943 kamen bei einer Hungersnot in Bengalen mehr als drei Millionen Menschen ums Leben. Die englischen Besatzer hatten die Kornspeicher geleert, die Ernten für die britischen Streitkräfte konfisziert, die die japanischen Truppen in Burma und auf anderen asiatischen Kriegsschauplätzen bekämpften. 168
Von da an hatte Mahatma Gandhi den Kampf gegen den Hunger zum wichtigsten Aspekt seines politischen Wirkens gemacht. Der Pandit Nehru, Premierminister des souveränen Indiens, setzte den Kampf fort.
Wenn heute in einem der über 6000 Distrikte des Landes ein Mensch verhungert, wird der District Controller sofort abgesetzt.
Das erinnert mich an eine Augustnacht des Jahres 2005 in Bhubaneswar, der prächtigen Hauptstadt des Bundesstaates Orissa an der Küste des Golfs von Bengalen. Zu jeder meiner Missionen gehörten unabdingbar Treffen mit Vertretern sozialer Bewegungen, religiöser Gemeinschaften, Gewerkschaften und Frauenbewegungen. In Bhubaneswar war Pravesh Sharma im Namen des International Fund for Agricultural Development (IFAD / Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung) damit beauftragt, diese Treffen zu organisieren. 169
Mehr als 40 Prozent der indischen Bauern sind Bauern ohne Boden, Sharecroppers , Wanderarbeiter, die von Ernte zu Ernte ziehen. Der IFAD arbeitet vor allem mit diesen Sharecroppers zusammen. Sie leben in grenzenlosem Elend.
Sharma machte uns mit zwei Frauen in verwaschenen braunen Saris bekannt, die traurig, aber ungebrochen waren: Beide hatten sie ein Kind durch den Hunger verloren.
Meine Mitarbeiter und ich hörten ihnen lange zu, wobei wir uns Notizen machten und ihnen Fragen stellten. Das Treffen fand weit entfernt von unserem Hotel und weit entfernt von den örtlichen UN-Büros in einem Vorort statt.
Drei Tage später wurde ich in der Abflughalle des Flughafens Bhubaneswar von einem Polizeibeamten abgefangen. Eine Delegation, die auf Geheiß des Premierministers gekommen war, erwartete mich in einem Salon. Geleitet wurde sie von P. K. Mohapatra, dem örtlichen Direktor der Food Corporation of India (FCI).
Drei Stunden lang versuchten mich die fünf Männer und drei Frauen, aus denen die Delegation bestand, unter Vorlage von Dokumenten und Krankenberichten davon zu überzeugen, dass die beiden Kinder nicht am Hunger, sondern an einer Infektion gestorben waren. Offenbar ging es für mehrere dieser Beamten um ihren Kopf.
Die Food Corporation of India verwaltet das Public Distribution System. In jedem Bundesstaat unterhält sie riesige Lager. Sie kauft den Weizen im Pandschab und lagert ihn überall in Indien.
In ganz Indien verwaltet sie mehr als 500000 Lagerhäuser. Vertretungen der Dörfer und Stadtviertel stellen Listen mit Bezugsberechtigten auf. Jede bezugsberechtigte Familie erhält eine Ausweiskarte.
Es gibt drei Kategorien von Bezugsberechtigten: die APL, die BPL und die Anto. APL heißt » Above the Poverty Line « (unmittelbar über der Armutsschwelle, am Existenzminimum), BPL » Below the Poverty Line « (unter dem Existenzminimum), Anto, ein Hindi-Wort, bezeichnet die Opfer extremen Hungers.
Für jede der drei Kategorien gibt es einen besonderen Kaufpreis. Eine sechsköpfige Familie hat das Recht auf 35 Kilogramm Weizen und 30 Kilogramm Reis pro Monat.
2005 galten für eine BPL-Familie folgende Preise: 5 Rupien für ein Kilogramm Zwiebeln; 7 Rupien für ein Kilogramm Kartoffeln; 10 Rupien für ein Kilogramm Getreide. 170
Dazu muss man wissen, dass 2005 der Mindestlohn in Städten 58 Rupien pro Tag betrug.
Gewiss, es werden rund 20 Prozent der PDS-Vorräte regelmäßig auf dem freien Markt verkauft. Einige Minister und Funktionäre verdienen mit diesen Unterschlagungen ein Vermögen. Die Korruption ist endemisch.
Aber trotzdem profitieren mehrere Hundert Millionen extrem armer Menschen vom PDS. Da die Preise in den Food Stores der Food Corporation of India (FCI) – je nach Kategorie der Begünstigten – um ein Vielfaches unter den Marktpreisen liegen, gehören die großen Hungersnöte in Indien der Vergangenheit an.
Außerdem verbessert das PDS-System das Geschick der Kinder.
In Indien gibt es nämlich mehr als 900000 spezielle Zentren für Kinderernährung, die Integrated Child Development Centers (ICD). Laut UNICEF sind mehr als 40 Millionen der 160 Millionen indischer Kinder schwerst und permanent unterernährt. Ein Teil von ihnen erhält in den ICDs Realimentation,
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