Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
Großbritannien sind 8% der Menschen, bei denen erstmalig eine HIV-Infektion festgestellt wird, über fünfzig, und die Infektionsrate steigt in dieser Altersgruppe schneller an als in jeder anderen – in den Jahren 2000 bis 2007 hat sie sich verdoppelt. Jetzt könnte man natürlich meinen, diese Zahlen kämen zustande, weil Middle-Ager nach Scheidung oder Tod des Partners wieder auf den Heiratsmarkt drängen, aber wie wir ja schon sehen konnten, sind Scheidung und Tod im Middle-Age weniger häufig als in jüngeren Jahren. Untersuchungen belegen außerdem, dass Middle-Ager das Risiko einer Ansteckung regelmäßig unterschätzen, und auch hier denke ich, das zeigt deutlich, wie sehr Menschen dieser Altersgruppe bereit sind, sämtliche Bedenken in den Wind zu schlagen, um ihre romantisch-sexuellen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Was zur Ausbreitung der durch Geschlechtsverkehr übertragenen Krankheiten extrem beiträgt, sind natürlich Swinger-Aktivitäten, oder wie ein Zeitungsartikel es formulierte: »einvernehmliche Beteiligungen an außer-dyadischem Sex«. Swingen stellt ein recht ungewöhnliches Sexualverhalten dar, denn oberflächlich betrachtet ist es das Gegenteil dessen, was wir uns unter einer romantischen-sexuellen Beziehung vorstellen. Man ist heute allerdings der Meinung, dass es beim Swingen weniger um die Unterdrückung eines Eifersuchtsgefühls geht, als vielmehr darum, aus der Eifersucht eine gesteigerte sexuelle Erregung zu ziehen. Was immer die psychologischen Kicks auch sein mögen – ganz offenbar ist es unter Middle-Agern recht verbreitet und führt nicht nur zu verhältnismäßig vielen Terminvereinbarungen beim Uro- bzw. Gynäkologen, sondern auch zu ebenso vielen positiven Diagnosen.
Unter der ruhig und stabil wirkenden Oberfläche mittel-alterlicher Beziehungen herrscht also ein wildes Durcheinander brodelnder biologischer Zwänge, psychologischer Dilemmata undevolutionärer Antriebe. Mit dem aufkommenden Ackerbau entwickelten die Menschen die lebenslange Monogamie, um im dicht gedrängten Mief der Siedlungen mit diesen zerstörerischen Kräften umgehen zu können. Aber bis heute treiben die fundamentalen biologischen Unterschiede einen Keil zwischen Männer und Frauen, im Middle-Age sogar noch mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt. Mit dem Eintritt ins Middle-Age tickt unsere »Lebensuhr« unaufhaltsam weiter, durchs fünfte Jahrzehnt hindurch, dann durchs sechste – und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden sogar noch größer, was etwa Einkommen, den Umgang mit Kindern, die Fruchtbarkeit und die Attraktivität für andere betrifft. Und die destruktivsten Unterschiede zeigen sich in diesen unterdrückten, blinden Bestrebungen, die wir uns über die vergangenen Jahrmillionen angeeignet haben – nämlich die Bestrebungen, aus dem Leben auch noch das letzte bisschen reproduktiven Erfolg herauszuquetschen, egal, ob dabei jemand zu Schaden kommt oder nicht.
Man muss bei all dem allerdings zur Kenntnis nehmen, dass mittel-alterliche Beziehungen trotz des genannten Durcheinanders erstaunlich robust sind. Die Klischees, die mancher im Kopf hat, entsprechen keineswegs der Wahrheit – Männer versuchen nicht grundsätzlich, ihre Langzeitbeziehung loszuwerden und sich ein Model zu angeln; zu ehelicher Untreue kommt es nicht unbedingt, weil man die Partnerin verlassen will; eine Affäre ist bei einer Scheidung meist nicht der einzige Grund; außereheliche Beziehungen sind unter emotionalen Gesichtspunkten oft weniger befriedigend als die Ehe selbst es ist. Romantik und Sex haben im Middle-Age nicht etwa deshalb Bestand, weil sie statisch oder gar langweilig sind, sondern weil sie die größte und komplizierteste Verbindlichkeit darstellen, die zwei Menschen eingehen können. Denn es ist nun mal so, dass wir mit dem Erreichen des Middle-Age auch endgültig erwachsen sind.
Zusammenfassung
Ein Blick zurück vom Gipfel
Gegeben ist dir ein Körper, schöner als anderen Tieren, gegeben die Möglichkeit angemessener und vielfältiger Bewegungen, gegeben die schärfsten und empfindlichsten Sinne, gegeben Witz, Verstand und Gedächtnis, wie ein unsterblicher Gott sie hat.
Leon Battista Alberti, Della tranquillitá dell’annimo , 1441
Was also haben wir auf unserer Reise durch das fünfte und sechste Jahrzehnt unserer geschätzten siebzig Jahre gelernt?
Das Middle-Age wird oft als eher triste Übergangsphase in unserem Leben angesehen – eine Art Abenddämmerung zwischen dem
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