Wir Middle-Ager -Unsere besten Jahre
selbst wenn er erst nach dem Zeitpunkt einsetzt, an dem die meisten Menschen die Reproduktion eingestellt haben. Durch Bewahrung und Weitergabe von Kultur gewinnen Menschen für die Evolution eine weit größere Bedeutung, als sie sie durch bloße Fortpflanzung hätten.
Aber wie steht es denn nun bei dieser Theorie vom »mittelalterlichen« Kulturtransfer um die Beweislage? Na ja, zunächstwissen wir alle, dass Menschen, wenn sie älter werden, gerne und ungefragt Ratschläge geben und ihre Meinung kundtun. Und je älter sie werden, desto mehr scheint diese Weitergabe von Erfahrungen zu einem Zwang zu werden – was einem dann schon mal auf die Nerven gehen kann. Nun ist es so, dass uns an einem gewissen Punkt im mittleren Alter zwei Dinge gleichzeitig dämmern: Erstens besteht unser Beitrag zum Leben der Gemeinschaft ab jetzt in unserem Wissen und unserer Erfahrung, zweitens haben wir zur Weitergabe dieses Wissens und dieser Erfahrung leider immer weniger Zeit. Im mittleren Alter scheint man anfangs noch jede Menge Zeit zu haben, seine wohlbemessenen, ausgewogenen Ansichten zu vermitteln, doch ab einem gewissen Alter kann das in einen verzweifelten Kampf um die Aufmerksamkeit der jüngeren Generation umschlagen, die aber gar nicht mehr zuzuhören scheint. So vieles, was man sagen will – und so wenig Zeit, es wirklich zu tun.
Klar, diese kurzen Überlegungen sind eher unwissenschaftlich, trotzdem korrespondiert die Vorstellung vom mittel-alterlichen Informationsträger ziemlich gut mit dem ungewöhnlichen Verlauf des menschlichen Lebens. Menschen sterben so gut wie nie im mittleren Alter, obwohl wir uns kaum noch fortpflanzen und unser Körper offensichtliche Verfallserscheinungen aufweist. Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, findet im Gehirn, insbesondere was Sprache und Gedächtnis betrifft, über das fünfte und sechste Lebensjahrzehnt hinweg so gut wie kein Abbau statt, und nichts anderes würde man ja auch erwarten bei Lebewesen, deren Hauptzweck in der Speicherung und Weitergabe von Informationen besteht – seien es Eltern, Verwandte, Freunde oder Mentoren am Arbeitsplatz. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass Untersuchungen zufolge ein schwindendes Interesse an der Förderung junger Menschen ein frühes Anzeichen für eine Krankheit oder den bevorstehenden Tod sein kann. Fastsieht es so aus, als würde die Evolution das Interesse an uns verlieren, sobald wir unsere Gedanken nicht mehr an die Jungen weitergeben.
Und neuerdings glauben Neurowissenschaftler entdeckt zu haben, wo genau im Gehirn dieser Drang, die Kultur fortzusetzen, gesteuert wird. Zwei relativ jung entwickelte, miteinander korrespondierende Bereiche sollen dafür verantwortlich sein, nämlich das »Areal 10« (nach Korbinian Brodmann) im Frontallappen sowie die Spindelzellen des vorderen Gyrus cinguli. Man nimmt an, dass diese beiden Regionen zentrale Bedeutung für den Prozess haben, den wir erleben, wenn wir etwas falsch gemacht haben – anstatt aufzugeben oder um Rat zu fragen, versuchen die meisten Erwachsenen zu analysieren, wo der Fehler liegen und wie man beim nächsten Mal mehr Erfolg haben könnte. Wurde einerseits behauptet, dass dieser neuronale Schaltkreis die Grundlage der mittel-alterlichen Introspektion ist (die wir später noch genauer unter die Lupe nehmen), ist man andererseits auch der Ansicht, dass von hier unser Drang einer Weitergabe von Wissen und Erfahrung an die Jungen ausgeht – um sie aus den von uns gemachten Fehlern klug werden zu lassen.
Wir sind bei der Untersuchung des Middle-Age an einem Wendepunkt angelangt, denn wir wissen jetzt nicht nur, wie der Mensch mittleren Alters entstehen konnte, sondern wir wissen außerdem, warum das so ist. Wir konnten sehen, dass Middle-Ager durch ihre hervorragenden Kenntnisse bei der Nahrungsbeschaffung und ihre gesammelten Erfahrungen für Überleben und Gedeihen ihrer Art essenziell waren, und dass ohne die Menschen mittleren Alters die hochentwickelte menschliche Lebensform weder zustandegekommen wäre noch funktionieren würde. Dass die Veränderungen im mittleren Alter so besonders, abrupt und einzigartig sind, liegt schlicht und ergreifend daran, dass sie eben nicht Symptome eines graduellen, unkontrollierbaren Verfalls sind. Stattdessen haben sie sich im Zuge einer natürlichen Selektion herausgebildet, und wir ziehen in körperlicher und kultureller Hinsicht gewaltigen Nutzen aus ihnen.
Nun sind wir in der Lage, uns den
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