Wir müssen leider draußen bleiben
Orgeon unterrichtet, hat Ende der neunziger Jahre über eineinhalb Jahre mehrere Dörfer im Südwesten Bangladeschs untersucht. »In Bangladesch gibt es eine lange Tradition, Arme – vor allem Frauen – zu beschämen und dies als Instrument der sozialen Kontrolle anzuwenden«, sagt sie. 459 Dass die Mikrokreditorganisationen gezielt solche Instrumente einsetzen, bezeichnet sie als »Wirtschaftssystem der Beschämung«.
Enteignung im Namen der Armutsbekämpfung
Nasma, die Schwiegertochter des Dorfoberen von Joymonir hat, Abdul Karim, eine sanfte junge Frau, verteilt Päckchen aus Blättern an die Frauen. Darin sind Späne der Betelnuss und Gewürze gewickelt. Man kaut sie, um Hungergefühle zu unterdrücken. Der Name des Distriktes, in dem Joymonirhat liegt, heißt Kurigam – das bedeutet übersetzt: zwanzig Dörfer. Kuri gam befindet sich im Nordosten von Bangladesch an der Grenze zu Indien in einer der ärmsten Regionen dieses ohnehin bettelarmen Landes. Regelmäßig bricht hier eine Hunger not aus, die die Bangladescher mit dem düster klingenden Namen Monga bezeichnen. Meist kommt Monga zwischen September und November; die Menschen in Kurigram nennen diese Zeit auch »mora kartik« 460 , die »Monate des Todes und Schreckens«. Diese suchen die Menschen dann heim, wenn die alte Ernte bereits verbraucht ist, es aber noch lange hin ist bis zur nächsten. Monga trifft die Ärmsten in den abgeschiedenen ländlichen Gegenden besonders hart: Hier sind die meisten Menschen Selbstversorger, sie haben nicht genug Geld für Nahrungsmittel. Dazu kommt, dass die ohnehin schon raren Jobs rasch vergeben sind. Zwischen September und November fliehen daher viele Menschen in die Städte und versuchen, dort Arbeit zu finden. Die das nicht können, weil sie alt oder krank sind, leiden lebensbedrohlichen Hunger, essen Ungenießbares, werden krank oder sterben.
» Monga ist jetzt noch schlimmer zu ertragen als früher«, stellt Dulali Begum fest. Für die Mikrokreditgeber allerdings sei Monga ein gutes Geschäft. »Wenn die Hungersnot ausbricht, sind auch die meisten Banker und Geldverleiher hier.« Denn dann nehmen die Armen Kredite auf, um sich Essen kaufen zu können, und rutschen noch tiefer in die Schuldenfalle.
In ihrer Not beleihen die Familien ihre Felder; früher oder später sind sie gezwungen, diese zu verkaufen. Dulali, die Reisbäuerin, hat ihr Land bereits verkauft. Jetzt arbeitet sie auf den Feldern anderer Bauern, um Geld für den Kredit zu verdienen. »Ich vermisse meine Erde«, sagt Dulali und weint. »Manchmal«, sagt sie leise, »sitzen wir zusammen und überlegen, wie wir da jemals wieder rauskommen sollen. Aber wir finden keinen Weg. Erlösen kann uns nur der Tod.«
Dem Bangladesch Institute of Developement Studies zufolge leben 40 Prozent der Bevölkerung Bangladeschs in extremer Armut und leiden Hunger, 30 Prozent leben in chronischer Armut. 70 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Bangladeschi, leben unterhalb der Armutsgrenze. 461 Für den bangladeschischen Wirtschaftswissenschaftler Anu Muhammad sind diese Zahlen und die jedes Jahr zuverlässig wiederkehrende Hungersnot Monga der Beleg dafür, dass das Programm der Mikro kredite zur Armutsbekämpfung nicht funktioniert. Er und seine Studenten haben seit den neunziger Jahren Untersuchungen in 15 Dörfern in verschiedenen Teilen des Landes gemacht. Ihr erschütterndes Ergebnis: Nur fünf Prozent der Mikrokreditnehmer profitieren von dem Kredit. Und auch die nur deshalb, weil sie bereits eine zuverlässige Einkommensquellen hatten, als sie den Kredit aufnahmen. 50 Prozent konnten ihren Lebensstandard nicht verbessern, allenfalls halten, indem sie zusätzliche Kredite bei anderen Organisationen aufnahmen. Die Lage der restlichen 45 Prozent hatte sich sogar erheblich verschlechtert. 462 Die meisten kritischen Studien, sagt Anu Muhammad, kämen zu vergleichbaren Ergebnissen: Nur fünf bis zehn Prozent – und das seien gerade nicht die Ärmsten der Armen – profitieren wirklich von den Mikrokrediten. Selbst eine Studie der Weltbank und des Bangladesch Institute of Developement Studies gelangte 1997 zu dem Ergebnis, dass sich nur fünf Prozent der Kreditnehmerinnen aus der Armut befreien konnten – das ist gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung. »Es wird vorausgesetzt, dass alle Bedingungen, also Natur, Gesundheit, die Familiensituation, die Geschäftsgrundlage, konstant günstig bleiben«, sagt Muhammad. 463 Leider ausgesprochen unwahrscheinlich
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