Wir müssen leider draußen bleiben
Kreditanstalt für Wiederaufbau gilt als weltweit größter öffentlicher Investor in Mikrofinanzen. 472 Ingesamt sind weltweit rund 60 Milliarden Dollar als Mikrokredite in Umlauf, die von geschätzten 70 000 Mikrokreditorganisationen verteilt werden. 473
Seinen ersten öffentlichen Aufritt als deutscher Entwicklungshilfeminister absolvierte Dirk Niebel pas senderweise gemeinsam mit Bangladeschs Ein-Mann- FDP Muhammad Yunus. In seiner Rede kündigte Niebel an, stark auf Mikrofinanzierung zu setzen. Er halte diese für eine der kostengünstigsten und zugleich effizientesten Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit und der Armutsbekämpfung. Dass auch arme Menschen Zugang zu Krediten erhalten, sei eine wichtige Voraussetzung für diese Bevölkerungsschich ten, um sich aus eigener Kraft Wohlstand zu erarbeiten und frei leben zu können. 474 Zusammen mit Sozialmaskottchen Yunus lächelte Niebel ins Blitz lichtgewitter und sagte: »Mikrokredite sind also ein urliberales Instrument der Hilfe zur Selbsthilfe.«
Wie immer, wenn Politiker Eigenverantwortung anmahnen, geht es in Wirklichkeit darum, alle Risiken auf den Einzelnen abzuwälzen. Mikrokredite sind kein Akt der Menschlichkeit und Fürsorge. Sie sind auch kein Alternativprogramm zur klassischen Entwicklungshilfe: Stattdessen wurde die hohe Staatsverschuldung der armen Länder auch noch auf das Individuum ausgeweitet. Denn während die Geber kein Risiko eingehen, weil die Rückzahlungsquote und die Zinsen – im weltweiten Durchschnitt 38 Prozent! – so hoch sind, haften die bitterarmen Männer und Frauen dafür mit ihren Existenzgrundlagen. Diejenigen, die unter der Staatsverschuldung der Entwicklungsländer also am meisten leiden, haben nunmehr durch Privatschulden eine noch größere Bürde zu tragen. In Heinemanns Film stellt der US -amerikanische Entwicklungsexperte und Mikrokreditkritiker Thomas Dichter eine ganz einfache Frage: »Niemand von uns möchte Schulden haben. Warum also denken wir, ausgerechnet Arme hätten lieber Schulden als wir?«
Die Entwicklungsorganisation Kindernothilfe vergibt selbst an Kinder Mikrokredite, damit die sich ein Geschäft aufbauen können. 475 Nun ist es gewiss so, dass der westliche Blick auf Kinderarbeit sentimental ist. Aber indem man Kinder einfach von den Feldern und aus den Fabriken holt –, das belegen viele Studien –, bereitet man der Kinderarbeit noch lange kein Ende, sondern verschlimmert oft sogar die Situation der Familien. Kinder müssen deshalb arbeiten, weil die Eltern arm sind. Es ist ein strukturelles Problem. Kindern Kredite zu geben, um sie zu kleinen Unternehmern zu machen: Dieser Pragmatismus blendet die Strukturen nicht nur aus, er ist eine Bankrotterklärung. Sie bedeutet, dass sich die westliche Welt mit Armut längst abgefunden hat.
Hunger und Kinderarbeit durch Mikrokredite
Es ist später Nachmittag, als wir in Ghogadaho ankommen. Die tief stehende Sonne spinnt das Stroh der Hütten zu Gold, ein Vogel zwitschert ungehalten in der Krone einer Palme. Auch hier haben sich die Frauen auf dem Dorfplatz versammelt. Sie sind abgemagert, ihre Saris schmutzig und zerschlissen. Auch Ghogadaho gehört zu den Regionen, die von Monga betroffen sind. Schlimmer noch: Das Dorf liegt unweit des Flusses Teesta, der durchs indische Westbengalen fließt und in Bangladesch in den Brahmaputra mündet. Der Fluss führt nur wenig Wasser. 1995 wurde deshalb mit Unterstützung der Weltbank in Indien, 18 Kilometer von der Grenze zu Bangladesch entfernt, der gigantische Farakka-Staudamm errichtet. Zur Trockenzeit, wenn das Wasser niedrig steht, wird der Fluss gestaut und das Wasser Richtung Kalkutta geleitet. Dann aber fehlt diese s Wasser den Armen in Bangladesch, die damit ihre Reisfelder bewässern. Es folgen Dürren, die Böden versalzen, die Fischbestände schwinden, der Fluss ist nicht mehr mit Booten befahrbar. Wenn der Monsunregen den Fluss aber anschwellen lässt, öffnet Indien den Staudamm. Dieses künstliche Hochwasser trifft die Menschen in Bangladesch meist zur Erntezeit. Dann werden Häuser und Ernten zerstört, die Menschen fliehen in höher gelegene Regionen und leben dort unter freiem Himmel. Die Flut sorgt außerdem für Erosionen: eine solche machte im Juli 2011 300 Menschen der Gegend obdachlos. 476
Für die Frauen von Ghogadaho ist Muhammad Yunus, der Friedensnobelpreisträger, alles andere als ein Heilsbringer. »Er hat den Frieden hier für immer zerstört«, sagt Shahida Begum. Wenn man
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