Wir sehen uns in Paris
schlägt der Schaffner doch nicht gleich großen Alarm. Für den bist du bestenfalls eine von diesen lästigen Gören, die von zu Hause abgehauen sind. Das kommt hier öfter vor. Darum machen die kein Aufhebens.«
John geht voran und Isabella humpelt hinterher.
»Aber wenn du dich unsicher fühlst, nimm meine Kappe. Wenn du deine Haare druntersteckst, siehst du sofort anders aus. Morgen kaufen wir noch eine Sonnenbrille dazu.«
»Gute Idee!« Isabella flüstert nur noch.
Während John die Fahrpläne studiert und für sie eine Strecke mit Bummelzug aussucht, verschwindet Isabella auf der Bahnhofstoilette. Als sie ihre Hose herunterschiebt und das Trockentuch abnehmen will, schreit sie leise auf. Es klebt in der eiternden Wunde fest. So gut es geht, reinigt sie das Bein und wickelt das Tuch wieder drum herum. Dann schiebt sie sich die Kappe tief in die Stirn. So muss es gehen.
In der Bahnhofshalle schaut sie sich unauffällig nach einem öffentlichen Internetplatz um. Doch die haben längst geschlossen. Telefonieren will Isabella nicht. Bei dem Gedanken, sich jetzt mit ihrer Mutter am Telefon auseinandersetzen zu müssen, wird ihr ganz anders.
Da taucht John wieder auf und drängt zur Eile. »Es ist der letzte Zug«, erklärt er.
Sie steigt mit John in einen der Regionalzüge, der sie näher an ihr Ziel bringen soll … Ihr nächster Umsteigebahnhof wird Göttingen sein.
Eine Viertelstunde später steht Isabella steht in der Toilette des rumpelnden Regionalzugs und hat das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Hier gibt es keine Seife, kein Papier mehr, nur kaltes, fast tröpfelndes Wasser. Aber sie muss hierbleiben, bis der Schaffner vorbeigelaufen ist.
Isabella will sich entspannen, durchatmen, sich auf den Boden setzen. Aber nur in die Hocke, weil der Fußboden zu schmutzig ist. Ein rasender Schmerz durchzuckt wieder ihren Oberschenkel. Da bleibt sie mit dem Rücken zur Tür stehen, lehnt sich an und beißt sich auf die Lippen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig: Sie müssen ja weiter. Sie hört das Blut in ihren Ohren rauschen und das gleichmäßige Tuckern des Zugs, der langsam durch die Nacht zieht. Isabella lauscht nach draußen. Stille, Schritte.
Jetzt hämmert jemand gegen die Tür. Hat er vorher die Klinke gedrückt? Ist das etwa der Schaffner, der bemerkt hat, dass sie hier ist? Sie hält den Atem an, bleibt mucksmäuschenstill, gibt auch keine Antwort. Irgendwann wird sich derjenige vor der Tür schon verziehen.
Es ist jetzt eine Viertelstunde nach Mitternacht, noch gut dreißig Minuten bis Göttingen. Das Schlimmste steht ihnen noch bevor. Der Zug nach Kassel geht erst um vier Uhr in der Frühe. Drei Stunden Aufenthalt in Göttingen – mitten in der Nacht auf dem Bahnsteig oder auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie verflucht Johns Plan, sich in Nahverkehrszügen bis Frankfurt durchzuschlagen. Obwohl die Idee, die dahintersteckt, zunächst einleuchtend zu sein schien.
Unsinn. Gut wäre es, jetzt im Bett zu liegen, sich ins Kopfkissen zu kuscheln und sich auf das Frühstück mit Mama zu freuen. Sie hat es verbockt. Aber John hat es ihr vorgerechnet. Zusammen haben sie noch knapp 50 Euro. Sie müssen bis Frankfurt durchhalten. Ab da kann sie sich wieder eine Fahrkarte kaufen. Die kostet von Frankfurt nach Saarbrücken nämlich ungefähr 40 Euro. Und das kann sie sich leisten. Immerhin. Sogar ein paar Brötchen, vielleicht sogar eine Cola, sind noch zu bezahlen. Denn eine gültige Fahrkarte haben sie ja. Ihre, die John ihr geklaut hat. Isabella spürt, wie sie aufs Neue wütend wird. Auf John, aber auch auf sich selbst.
Sie atmet einmal tief durch und dann muss sie fast lächeln. John. Ein bisschen mag sie ihn. Aber er hat ihr auch alles verdorben.
Ihr Blick fällt in den Spiegel. Sie sieht grauenhaft aus: Augenringe, blass, Flecken im Gesicht. Oder ist es die flackernde Lampe? Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare, spritzt sich ein wenig Wasser ins Gesicht und zupft ihr T-Shirt zurecht. Doch als sie die Hose glatt streicht und den Verband am Bein wieder spürt, weiß sie, dass eine solche Reinigungsaktion kaum etwas verbessern kann. Sie hat eine Entzündung im Bein.
Sie wartet noch ein paar Minuten. Der Schaffner sollte nun wirklich weg sein. Darum schließt sie die Tür auf und geht durch den rumpelnden Zug zurück zu ihrem Platz. Alles ruhig. Sie setzt sich. John lächelt sie an. Sie lehnt sich zurück.
Der Zug zuckelt durch die Nacht. Durch den schmalen Schlitz seiner fast
Weitere Kostenlose Bücher