Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Liebe zu Frankreich und der grenzenlosen Wut auf Napoleon, der sich seine noch mehr geliebte Heimat unterwerfen will, der die Preußen zwingt, etwas anzunehmen, das sie zuvor von Herzen gern und ohne jeden Zwang angenommen haben: die französische Sprache und ihre Kultur. Wozu? Wozu all das Metzeln und Morden? Für wen? Die französischen Soldaten hungerten und froren und wurden verheizt, und ihr oberster General fraß täglich gebratene Hühner!
Der Kommandant hat ihm inzwischen erklärt, dass man den Absinth mit Wasser verdünnen muss, sodass sich die klare Flüssigkeit auf rätselhafte Weise eintrübt – aber nicht der Kopf. Ah, grüne Fee, welch ein Vergnügen!
Irgendwann, vielleicht schon am dritten oder vierten Tag, auf dem Wall, im Freien, macht Heinrich eine Entdeckung. Sensationell, denkt er, das kann nicht sein! Ein Mann mit schwarzer Haut steht dort! Ja! Ein dunkelhäutiger Mann, ganz ohne Zweifel, ein Schwarzer! Sofort zieht er Heinrichs nervöse Aufmerksamkeit auf sich. Er beobachtet ihn, späht nach ihm aus. Er sieht, wie der Fremde mit schwerfälligem Gang herumstreift. Er streicht im Fort herum wie ein vergessener Hund, an den sich später keiner erinnern wird. Er ist groß und schlotterdünn,die Schultern hängen traurig herab, obwohl sie eigentlich kräftig sind, die Kleidung fällt um ihn herum. Seinen Blick hält er gesenkt, und seine Wangen sind mehr Falten als Gesicht. Er schlägt die langen Arme frierend um den Körper, an seinem linken Fuß, Heinrich sieht es mit Entsetzen, hängt eine Eisenkugel, an einer schweren Kette schleift er sie hinter sich her.
Beim nächsten Spaziergang auf dem Befestigungswall bittet Heinrich den Aufseher, diesen Mann ansprechen zu dürfen. Der Aufseher trägt die Bitte an den Kommandanten heran, der knurrend und unverständlich etwas mit sich selbst bespricht und schließlich, zu aller Überraschung, die Erlaubnis erteilt.
Der Mann mit der dunklen Haut ist etwas ängstlich, dreht scheu den Kopf zur Seite, den Blick zu Boden gesenkt, als Heinrich ihn freundlich begrüßt. Erst scheint er seinen Ohren nicht zu trauen und kriegt den Mund nicht auf, doch Heinrich wiederholt sein lächelndes
bon jour
. Er macht sogar ein wenig Konversation, zwei Sätze übers Wetter, ganz gegen seine Art, doch dann, er platzt ja fast vor Neugier, fragt er den erstaunten frierenden Mann: wo er herkomme? Ob er womöglich aus Haiti sei?
Der Fremde ist so verdutzt, dass er auflacht,
Ayiti, oui
, sagt er,
c’est mon pays
, ja, das sei seine Heimat,
Sen Domeng, dié la protège!
Er entschuldigt sich, er spreche ein etwas sonderbares Französisch, er sagt, so spreche man auf
Sen Domeng
, es sei
créole
, kreolisch.
Es ist ein sehr schönes, gut zu verstehendes Französisch, antwortet Heinrich, während er sein neugierigesHerz wie einen Trommelwirbel zu hören glaubt, laut und wild und schnell. Ein Augenzeuge! Ein Mann, der mehr weiß als alles, was es in Zeitungen und Journalen zu lesen gibt, was sich herumspricht, von Mund zu Mund. Einer, der dabei war und ihm alles berichten kann, der Erfahrungen gemacht hat in einem außerordentlichen Kampf um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Ja, sagt er zu dem ungläubig dreinblickenden Gefangenen, ich finde, es ist ein ausgesprochen angenehmer Klang, das Französische Ihrer Heimat,
Sen Domeng!
Er selbst spricht lieber französisch als deutsch; im Deutschen stottert er häufiger, die französische Sprachmelodie trägt ihn, trägt seine Gedanken, die sich nach außen richten, müheloser; die deutsche Sprache zerrt ihn nach innen, zwischen die Punkte seiner ellenlangen Sätze, zwischen die Kommas und Strichpunkte, die Ausrufezeichen und Fragezeichen, in die Mitte der Verben und Adjektive und der Gesten und Gedanken, die es alle auszusprechen gilt, auf engstem Raum.
Ein Offizier pfeift, der Spaziergang ist für heute zu beenden –
Es klopft heftig an Heinrichs Zimmertür. Der Diener, der schon am Nachmittag da gewesen ist, um Feuer zu machen, steht mit einem Korb Holzscheite an der Tür und fragt, ob er nach dem Ofen sehen dürfe. Henriette ist etwas erschrocken, dass der Diener sie in Heinrichs Zimmer vorfindet, aber dann denkt sie, es sei nichts dabei, sie würden ja auch das Essen zusammen einnehmen, an diesem gemeinsamen Tisch.
Der Diener, Johann Riebisch, äugt misstrauisch zum Tisch hin. Wein und Käse, aha, die Leute haben wohl guten Appetit, sie haben ihr eigenes Essen mitgebracht. Und zwei Flaschen Wein stehen
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