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Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halldór Gudmundsson
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Zentralbankchef zu dulden und weiterhin mit der Unabhängigkeitspartei – die ja an dem ganzen Privatisierungsprozess schuld sei – zu regieren. Auf einer solchen Versammlung in Reykjavíks größtem Kinosaal, am 24. November, rief die sozialdemokratische Außenministerin Ingibjörg Solrun Gisladottir dem Publikum den inzwischen berühmt-berüchtigten Satz zu: »Ihr seid nicht das Volk!« Was an und für sich richtig war, aber als unglaubliche politische Arroganz empfunden wurde. Im Dezember konnte man auf den Samstagskundgebungen vermehrt Schilder mit dem Slogan »Inkompetente Regierung« lesen, jetzt wollte man nicht nur die Führung der Zentralbank und die der Finanzaufsicht loswerden, sondern die ganze große Koalition.
    Kennzeichnend für die so genannten Samstagsdemonstrationen
war ihre Breite: Es waren bei weitem nicht nur Linke und Radikale, die sich hier versammelten, sondern auch ganz gewöhnliche Familien, Rentner, Menschen, die ihren Job oder ihre Ersparnisse verloren hatten. Der bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler Olafur Isleifsson war laut eigenen Angaben siebzehn Mal bei den Protesten dabei. Um die Weihnachtszeit beruhigte sich die Lage etwas; aus Regierungskreisen hieß es, man würde die Führung der Zentralbank und eventuell sogar den Handels- und den Finanzminister auswechseln und ernsthaft Beitrittsverhandlungen mit der EU erwägen. Auf das Letzte legten besonders die Experten und Ökonomen Wert, da sie meinten, der Kollaps der Banken wäre auch teilweise der viel zu schwachen isländischen Währung zuzuschreiben. Meinungsumfragen ergaben, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung einem Beitritt Islands zur EU zustimmte.
    Anfang des neuen Jahres kam es jedoch nicht zu der erwarteten Regierungsumbildung. Die Sozialdemokraten schienen gewillt, mit all diesen Maßnahmen bis nach dem Parteitag der Unabhängigkeitspartei, der für Ende Januar angesagt war, zu warten. Premierminister Geir Haarde gab zu verstehen, dass er danach den früheren Parteiführer David Oddsson sanft aus dem Amt des Zentralbankchefs entfernen und die traditionell EU-kritischen Unabhängigen auf dem Parteitag dazu bewegen könnte, ernsthaft Beitrittsverhandlungen zu erwägen.
    Hier hatte man jedoch die Rechnung ohne das Volk gemacht. Die Bevölkerung verspürte keinerlei Lust, einen Parteitag abzuwarten oder sich auf taktische Spiele einzulassen, sei es der Unabhängigen oder der Sozialdemokraten. Man verlangte Rücktritte und Neuwahlen. Wie war es möglich, dass das gesamte Finanzsystem eines Landes zusammenbrach, ohne
dass auch nur ein einziger Minister dafür die Verantwortung übernahm? Das war die allgemeine Stimmung im Land. Als dann das isländische Parlament nach der Weihnachtspause am Dienstag, dem 20. Januar, wieder zusammentrat, scheinbar ohne jegliche Rücksicht auf die Situation – auf dem Programm stand nicht die ökonomische Lage, sondern ein Gesetzentwurf zum Verkauf von alkoholischen Getränken in Lebensmittelläden -, platzte vielen der Kragen. Schon am frühen Nachmittag versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Parlament und blieb dort bis weit in die Nacht hinein. Es war der Anfang der so genannten Kochtopfrevolution: Die Leute brachten Töpfe und Pfannen von zu Hause mit und klopften darauf mit Löffeln und Gabeln, stundenlang.
    In der Nacht wurden die Demonstranten gewaltsamer: Der große Weihnachtsbaum, den die Stadt Oslo jedes Jahr der Stadt Reykjavík schenkt, wurde zerhackt – auf Austurvöllur loderten Lagerfeuer, bis die Polizei endlich den Platz räumte. Am Tag danach gesellten sich die Menschen erneut zu Jon Sigurdsson vor das Parlamentsgebäude und brachten ihr Geschirr mit; die Parlamentssitzung wurde vertagt. Einige Dutzend Demonstranten, darunter der Autor Hallgrimur Helgason, liefen hinüber zum Sitz des Premierministeriums, umzingelten Geir Haarde in seinem Auto und klopften gegen die Scheiben, bis sie von Leibwächtern zurückgedrängt wurden.
    Am Abend war ein Mitgliedertreffen im Reykjavík-Bezirk der Sozialdemokraten angesagt. Hunderte von Demonstranten versammelten sich vor dem Tagungsort mit Kochtöpfen und Sprechchören. Drinnen wurde die Regierungsbeteiligung der Partei scharf angegriffen. Keiner der anwesenden Parlamentarier traute sich, die Regierung zu verteidigen; die Parteiführerin
Ingibjorg Solrun Gisladottir lag zu dieser Zeit in einem Stockholmer Krankenhaus, um sich einen Gehirntumor entfernen zu lassen. Die Versammlung votierte einstimmig für den Austritt

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