Wir sind alle Islaender
der Sozialdemokraten aus der Regierung. In der Nacht kam es auf Austurvöllur zum ersten Mal zu richtigen Krawallen; jugendliche Anarchisten, aber auch ganz gewöhnliche Betrunkene und Rowdies lieferten sich Schlägereien mit der Polizei, die schließlich zu Tränengas griff. Es gab mehrere Verletzte.
Der friedliche Teil der Demonstranten versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Tags darauf stellten sich viele in orangefarbenen Mänteln vor die Polizeikette, um zu zeigen, dass es ihnen nicht darum ging, sich mit der Polizei zu schlagen, sondern gegen die Regierung zu protestieren. Am Samstag hatten sich fast Zehntausend zur wöchentlichen Demonstration versammelt – für Islands Verhältnisse ein Dammbruch. Spätestens jetzt war Ingibjörg Solrun Gisladottir, gerade vom Krankenbett in Stockholm zurück, klar, dass ihre Partei so nicht weitermachen konnte. Am Sonntagmorgen trat der sozialdemokratische Handelsminister zurück, nicht ohne vorher den Aufsichtsrat und den Direktor der Finanzaufsicht, für die er zuständig war, zu entlassen. Gisladottir stellte Haarde ein Ultimatum: Rücktritt der Zentralbankdirektoren, Neuwahlen, zudem sollte er den Premierministerposten an die Sozialdemokraten abtreten – wofür sie die Sozialministerin Johanna Sigurdardottir vorschlug, wahrscheinlich die einzige Politikerin auf Regierungsseite, die noch immer großes Vertrauen in der Bevölkerung genoss. Seit Jahrzehnten galt Johanna Sigurdardottir in breiten Kreisen als ehrliche Vertreterin der kleinen Leute und der sozial Benachteiligten.
Geir Haarde, der am Freitag hatte melden müssen, auch ihm stehe eine Krebsbehandlung bevor, hatte nun keine Wahl mehr und trat am Montag, dem 26. Januar, zurück. Binnen weniger Tage bildeten die Sozialdemokraten eine Minderheitsregierung mit den Links-Grünen, die von der Progressiven Partei, den langjährigen Partnern der Unabhängigen, geduldet wurde. Neuwahlen wurden für den 25. April angesetzt. Gleichzeitig verlangte die neue Premierministerin den Rücktritt von Zentralbankchef Oddsson – als dieser sich weigerte, wurde er per Gesetz dazu gezwungen. Man setzte provisorisch einen norwegischen Finanzexperten, Svein Harald Öygard, als Zentralbankchef ein und versuchte mit verschiedenen anderen Maßnahmen das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierenden erneut zu wecken. Zum Beispiel stellte man dem für die Untersuchung des Bankensturzes verantwortlichen Staatsanwalt die norwegische Juristin Eva Joly zur Seite, die in ihrer Wahlheimat Frankreich als unbestechliche Kämpferin gegen Korruption gilt.
Die Protestbewegung hatte viele ihrer Ziele erreicht: die große Koalition war geplatzt, der Vorstand der Zentralbank sowie des Finanzkontrollamts ausgewechselt, Neuwahlen angesetzt worden. Hördur Torfason setzte seine Samstagsdemonstrationen bis Mitte März fort, aber immer weniger nahmen teil, die Forderungen waren nicht mehr so laut, das Echo geringer. Viele aus den Bürger- und Protestbewegungen hatten die Hoffnung gehabt, das demokratische Bewusstsein der Isländer würde sich jetzt nachhaltig ändern, das gesamte Grundgesetz stünde zur Debatte, ein neues Verständnis von Politik würde sich ausbreiten. Das schien nun Makulatur. Denn jetzt stand ihnen ihre eigene Forderung nach sofortigen Neuwahlen
im Weg: Es erwies sich als sehr schwierig, in der kurzen Zeit bis zum Wahltag neue politische Parteien zu bilden, die Aussicht auf einen Wahlerfolg hatten. Die Breite der Bewegung und dass sie keine eindeutigen Führer hatte, war ihre Stärke und Schwäche zugleich. Man hatte die Regierung mit Pfannen und Kochtöpfen zum Rücktritt gezwungen, aber die Viererpartei, wie manche das isländische Vier-Parteien-System nennen, blieb. Die Wahlen am 25. April endeten mit einem starken Linksruck und waren ein Desaster für die Unabhängigkeitspartei, aber nur eine neue Liste kam ins Parlament, und zwar die so genannte Bürgerbewegung, die es immerhin auf sieben Prozent der Stimmen brachte.
Was macht die Krise mit den Menschen?
Der Gang zum Arbeitsamt
Audur Alfifa Ketilsdottir, Journalistin
»In Island kommt es einer Gotteslästerung gleich,
keine Arbeit zu haben.«
Die isländische Medienlandschaft hat sich, wie Islands Wirtschaft und die allgemeine politische Situation, in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Seit den dreißiger Jahren und bis zum Fall der Sowjetunion konnten sich die Isländer je nach politischer Heimat die Parteizeitung zum Frühstück aussuchen: Morgunbladid
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