Wir sind alle Islaender
Bürgermeisterkandidatin war Ingibjörg Solrun. Und ihr und
der Liste gelang tatsächlich das schier Unmögliche: Sie besiegten die Konservativen. Sie wurde Bürgermeisterin, gewann danach auch die Wahlen 1998 und 2002, und wurde damit zum Liebling der Linken und gleichzeitig zur Erzfeindin des früheren Bürgermeisters und damaligen Premierministers David Oddsson. Auf Landesebene bildete man nach diesem Vorbild vor den Parlamentswahlen 1999 das Wahlbündnis Samfylkingin (wörtlich Einheitsfront) – bestehend aus der Frauenpartei, der alten, aber kleinen sozialdemokratischen Partei und dem Großteil der Sozialisten, die sich in der so genannten Volksallianz fanden. Damit schien sich ein alter Traum von einer einheitlichen Linken verwirklicht zu haben.
Im Lande jedoch hatte weiterhin die Koalition der Unabhängigkeitspartei und der kleineren Progressiven Partei das Sagen, und das Ergebnis der Vereinigten Sozialdemokraten bei den Wahlen 1999, 27 Prozent, genügte nicht, diese Koalition zu stürzen. Für die Wahlen 2003 überlegte man sich deshalb, den offensichtlichen Gisladottir-Effekt auch auf Landesebene anzuwenden, und stellte sie als Premierministerkandidatin der Sozialdemokraten auf. Dies rief allerdings den Unwillen der übrigen Parteien auf der Reykjavíkliste hervor, wonach sie als Bürgermeisterin zurücktreten musste: Ihr bis dahin fast lupenreines Image bekam erste Flecken.
Die Wahlen 2003 bedeuteten, mit 31 Prozent für die Sozialdemokraten, einen großen Erfolg für sie persönlich und für die Partei – wobei es nicht ganz reichte, denn die Mitte-Rechts-Koalition blieb an der Macht; die Unabhängigen sackten zwar von 40 Prozent auf 34 Prozent ab, aber mit 18 Prozent für die Progressiven reichte es gerade noch. Ingibjörg Solrun engagierte sich jetzt mehr in der Partei, denn als solche hatte sich inzwischen
das Wahlbündnis konstituiert, und übernahm 2005 nach einer Kampfabstimmung (gegen Össur Skarphedinsson, ihrem Schwager, verheiratet mit der Schwester ihres Mannes) den Vorsitz, trat als unangefochtene Parteiführerin bei den Wahlen 2007 auf. Wieder genügte das Resultat der Opposition nicht, die Macht im Staat zu übernehmen. Diesmal jedoch war das Rennen denkbar knapp ausgefallen: Die Regierung verfügte nur noch über eine Mehrheit von einer Stimme, und die Koalition der Unabhängigen und der Progressiven war in einen Zustand der Abnutzung eingetreten. Die Sozialdemokraten drängten an die Macht; eine Volkspartei dieser Größe will staatstragend sein, und Ingibjörg Solrun wusste wahrscheinlich, dass sie nicht zum dritten Mal erfolglos als Premierministerkandidatin der Opposition auftreten konnte, wenn sie ihre politische Karriere langfristig sichern wollte. David Oddsson, der frühere Parteichef der Unabhängigen und Ingibjörg Solruns langjähriger Gegner, hatte sich aus der Politik zurückgezogen und war Zentralbankchef geworden; die Parteien konnten damit endlich miteinander reden. Und so entstand die Große Koalition ehemaliger Gegner im Frühjahr 2007. Die Situation schien günstig: Die Isländer schwelgten im Geld, erste Zeichen der Krise wurden nicht ernst genommen, das Regieren schien einfach. Die Sozialdemokraten wurden zwar dafür kritisiert, die Unabhängigen weiter an der Macht zu halten, aber eine andere Konstellation schien nicht wirklich machbar, und Ingibjörg Solrun hatte den größten Teil der Partei hinter sich. Sie wurde Außenminsterin im Kabinett von Geir Haarde. Im Nachhinein nahm damit eine klassische Tragödie ihren Anfang: Alle Schritte waren logisch und unumgänglich, aber sie führen direkt ins unabwendbare Ende.
Schon damals war Ingibjörg Solrun als Person und Parteiführerin nicht unumstritten. Sie galt vielen als kühl, wenig volksnah, als zu intellektuell und überheblich. Eine Meinung, die ich verstehe, aber nicht teile. Wir kennen uns seit mehr als dreißig Jahren.
»Für mich war der dramatische Montag nicht der 6. Oktober 2008, sondern der 29. September, der Tag, an dem ich operiert und die Glitnir Bank übernommen wurde. Aber im Prinzip fing alles bereits eine Woche vorher an. Premierminister Geir Haarde und ich waren in New York, um an der Generalversammlung der Vereinten Nationen teilzunehmen.«
Island kandidierte für einen Platz im UN-Sicherheitsrat, und die Wahl sollte am 17. Oktober stattfinden. Das Außenministerium hatte seit Jahren auf diese Kandidatur hingearbeitet und Hunderte Millionen von Kronen investiert. Aus jetziger Sicht kommt
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