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Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halldór Gudmundsson
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Gesellschaftsroman Rokland . Wie hat er den 6. Oktober 2008 erlebt?
    »Wir hatten ja das ganze Wochenende darauf gewartet, dass etwas passieren würde. Alle warteten darauf, was im Parlament entschieden würde. Wir warteten auf die entscheidenden Maßnahmen, und dann kam Geir Haarde am späten Sonntag endlich nach draußen und sagte, dass nichts unternommen werden müsste. Das hat ihm keiner abgenommen. Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen, ging auf und ab und habe dann auf Facebook ein Gedicht veröffentlicht, in dem es darum ging, dass ich auf einem großen Dampfer in der dritten Klasse bin, und wir steuern direkt auf einen Schiffbruch zu, aber die Mannschaft ist einfach sturzbetrunken. Am Montag hatte Geir dann seinen Fernsehauftritt und hielt diese Ansprache, die ich nicht kapieren konnte. Dabei habe ich ja die politische Entwicklung seit zehn Jahren recht gut verfolgt. Ich verstehe vielleicht nicht viel von Wirtschaft, aber ich versuche wenigstens, mich auf dem Laufenden zu halten, aber diese Rede habe ich gar nicht verstanden. Nur zum Schluss, als er sein berühmtes Gott segne Island sagte, wusste ich, dass etwas Dramatisches
bevorstand. Danach ließ man Thorgerdur Katrin Gunnarsdottir (damals Kultusministerin und Vizevorsitzende der Unabhängigkeitspartei) seine Rede quasi übersetzen, und dann wusste man, er sprach von Notstandsgesetzen.«
    »Mit der Öffentlichkeitsarbeit hatte es Geir Haarde ja nie so recht, und deswegen war er eigentlich ein schlechter Premierminister – er konnte mit den Leuten nicht reden. Ein Premierminister muss ja nicht nur seine Arbeit verrichten, er braucht auch Charisma und die Fähigkeit, den Menschen seine Gedanken zu vermitteln, aber das konnte er überhaupt nicht. Er wirkte wie gelähmt.«
    Wie hat Hallgrimur die Jahre des Aufschwungs erlebt? Es war ja eine Zeit, in der er seinen Ruf als Autor bei der Bevölkerung sehr gefestigt hat.
    »Eigentlich war man einer Art von psychischer Gewalt ausgesetzt. Ich fühlte mich immer, als ob ich einfach der Letzte wäre, weil ich nichts von Geld verstand, und dabei war ich doch zum anerkannten Autor geworden. Ich habe keine Aktien und keine Wertpapiere und hatte von diesen Dingen wirklich keine Ahnung. Ich kapierte nicht, wie die isländischen Geschäftsleute das Magasin du Nord in Kopenhagen kaufen konnten, obwohl ich sie insgeheim dafür bewunderte. Dabei tat ich wirklich mein Bestes, um auf dem Laufenden zu bleiben. Du weißt schon: Eigenkapital und EBITA, Subprime-Kredit und wie das alles heißt. Wer die Nachrichten im neuen Jahrhundert verfolgt hat, hat sich ja ein sieben Jahre langes Wirtschaftsstudium eingehandelt, wenn man so will. Verstanden hat es keiner, mitgemacht haben irgendwie alle.«
    »Ich weiß noch, wie ich vor ein paar Jahren die Haupteinkaufsstraße von Kopenhagen entlangging und ein paar Isländer
getroffen habe, die stolz meinten: Jetzt gehen wir in ›unsere‹ Geschäfte. Die Wirtschaftswikinger gaben uns ein neues Gefühl, und dieses Gefühl haben wir voll ausgekostet; endlich waren wir wer. Als ob wir die elende Geschichte Islands endlich hinter uns gelassen, die Vergangenheit endlich vertrieben hätten. Das isländische Trauma – vorbei und vergessen. Schluss mit Vulkanausbrüchen und Hungersnöten und Pestepidemien. Und dann dieser Schock, und wir alle stürzen wieder ab ins alte Island, wir befinden uns wieder mitten in den Büchern von Halldór Laxness, in der Islandglocke : alles, was er darin über Unabhängigkeit und Freiheitskampf geschrieben hat, ist wieder wahr, und wir hatten gedacht, wir seien das alles los. Das macht einen wirklich depressiv.«
    »Man sah ja diese neureichen Jungs; einer von ihnen war mit mir verwandt, und ich bin mit ins neue Haus, als er es der Familie zeigte, und es war, als ob man in eine Raumstation käme. Man strich mit der Hand die Wand entlang, und sofort gingen die Lichter an, und sein Range Rover sah immer aus, als hätte ihn noch nie ein Mensch gefahren. Es war, als lebten diese Leute auf einem anderen Planeten. Man las über ihre Privatjets und ging dann ins Geschäft, um Leberkäse zu kaufen. Dabei dachte ich: Solche Leute müssen sicher nie Leberkäse kaufen. Dazu sind sie zu weit weg von der Wirklichkeit. Und gleichzeitig habe ich mich dafür geschämt, dauernd Leberkäse kaufen zu müssen, während sie in ihren Privatjets am Champagner nippten.«
    »Aber klammheimlich hat man sich auch gefreut. Wir lie ßen die alte Gesellschaft hinter uns, da kamen neue

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