Wir sind alle Islaender
Menschen mit Geld und neuer Freiheit. Plötzlich gab es zum Beispiel eine Zeitung, die noch verbreiteter war als Morgunbladid . Diese
Neureichen kamen mir vor wie Napoleon, der uns von dem alten König befreit, aber dann erweist sich Napoleon als noch schlimmer als der frühere König.«
»Es musste ja ein Ende haben. Aber das sagt man im Nachhinein, ich sah das Ende nicht kommen. Ich erinnere mich an das Gefühl, dass Geld keine Rolle spielte. Man ging einfach in ein Einkaufszentrum, um sich zum Beispiel ein Tivoli-Radio zu kaufen, und es machte nichts. Man tat, als ob man jede Menge Geld hätte, als würde es nie ausgehen. Jetzt sieht alles wieder ganz anders aus. Man wird zu Freunden nach Hause eingeladen, und die haben vielleicht beim Bäcker einen schönen Kuchen gekauft und man denkt, wow, plötzlich ist das alles wieder etwas wert, und man hat wieder Respekt vor Geld, was einem eigentlich abhanden gekommen war. Viele sagten schon lange, bald müssen wir landen, aber es klang irgendwie, als säßen wir im Flugzeug und es ginge nur darum, ob die Landung hart oder weich ausfallen würde. Als Lehmann Brothers in Konkurs ging, habe ich darüber nur gelacht, so was konnte doch bei uns nicht passieren!«
Hallgrimur war wegen seines Engagements vor und während der Kochtopfrevolution viel in den Nachrichten. Wie kam es dazu?
»In den ersten zwei Wochen standen wir alle unter Schock, waren innerlich gelähmt, hatten vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen, weil wir alle auf unsere eigene begrenzte Art und Weise teilgenommen, die Businesswikinger bewundert hatten. Wir wussten nicht richtig, an wen wir uns wenden sollten. Meine Leute (die Sozialdemokraten) waren ja an der Regierung, sollten wir gegen die Regierung protestieren? Langsam richtete sich der Fokus auf David Oddsson, der die
Übernahme von Glitnir orchestriert hatte. Es gibt dieses Foto aus der Nacht der Glitnir-Übernahme, mit David Oddsson am Steuer seines Autos, der Premierminister auf dem Beifahrersitz und der Finanzminister auf dem Rücksitz. Das war mir sehr zuwider, der Mann hätte da schon längst seinen Rücktritt erklärt haben müssen. Aber er zog seine Show weiter ab, und unser Handelsminister war nicht einmal dabei – er war auf dem Land bei der Kartoffelernte.«
»Es dauerte einige Zeit, bis mein Zorn eine Richtung fand. Auf den ersten Demos habe ich keine Slogans wie ›Inkompetente Regierung‹ gerufen, ich konnte das nicht, da waren ja meine Leute mit dabei, und ich kannte sie. Neuwahlen waren meine Devise. Wir alle wollten der Regierung Zeit für Rettungsversuche geben. Im Dezember, als nichts passiert und kein Mensch zurückgetreten war, war ich ziemlich frustriert, und die Samstagsdemonstrationen auf Austurvöllur reichten mir nicht mehr aus. Ich wollte einen Artikel schreiben, der sollte Stuhl vor die Tür heißen. Ich wollte einen Stuhl nehmen und mich vor das Haus des Premierministeriums setzen. Meine Vision war, dass daraufhin immer mehr Leute kämen mit ihren Stühlen, und am Ende wären Tausende da, und so würde ein Riesendruck entstehen. Aber es war kalt, und bald war Weihnachten, und ich dachte, vielleicht bin ich der Einzige, der kommt. Also wollte ich erst mal abwarten. Und über Weihnachten wollte ich sowieso meine Schwester besuchen, die in Afrika in der Entwicklungshilfe arbeitet. Danach wollte ich loslegen.«
»Als ich aus Afrika zurückkam, war den Leuten der Kragen geplatzt. Dennoch hat es mich überrascht, wie viele Leute jetzt auf einmal auf Austurvöllur standen, als das Parlament wieder zusammentreten sollte; immer mehr gesellten sich dazu, in
der Nacht wurde dann der Weihnachtsbaum angezündet, und es gab diese Krawalle und letztlich kein Weg mehr zurück.«
»Drei Monate lang hatte die Regierung die Forderungen der Bevölkerung einfach ignoriert. Ingibjörg Solrun Gisladottirs Krankheit spielte natürlich auch eine Rolle. Erst haben wir sie geschont, und dann hat sie uns ja auch Versprechen gemacht. Oddny (Sturludottir, Hallgrímurs Exfrau und Stadträtin in Reykjavík für die Sozialdemokraten) war beispielsweise im Dezember bei ihr zu Hause, es war ein Treffen mit frustrierten jungen Frauen in der Partei, die diese Regierungsbeteiligung nicht mehr mittragen konnten, und dann sagte Ingibjörg Solrun, David sei noch vor Ende der Woche weg. Aber nichts geschah, und auch Neujahr verstrich ergebnislos. Später, als ein allgemeines Desaster drohte, hat Ingibjörg Solrun dann auf brillante Weise den
Weitere Kostenlose Bücher