Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wir sind bedient

Titel: Wir sind bedient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alena Schroeder
Vom Netzwerk:
ich habe damals Russisch gelernt. Wäre schön, die Deutsche Bahn würde den Mitarbeitern mal einen kleinen Englischkurs organisieren, aber da können wir lange drauf warten, fürchte ich. Kostet ja Geld. Umso mehr ärgert es mich, dass sich viele über diese Ansagen lustig machen.
    Während der Fahrt bin ich dann für alle Fragen der Fahrgäste da. Ich kontrolliere Tickets, erteile Auskünfte, suche Anschlusszüge raus. Ich mache auch den Service in der Ersten Klasse, bediene die Fahrgäste dort am Platz mit Snacks und Kaffee. Und ich bin zuständig für die Sicherheit an Bord. Auf Tunnelstrecken achte ich besonders darauf, dass möglichst kein Gepäck in den Gängen rumsteht. Wenn da mal was passiert, und der Zug muss schnell evakuiert werden, dann haben wir ein totales Chaos. Ich weiß natürlich, dass es eigentlich viel zu wenig Platz für Gepäck und Kinderwagen gibt in den ICEs. Aber es ist mir lieber, es wird ein bisschen rumgeräumt und umständlich verstaut, als dass die Leute im Notfall über herumstehende Koffer stolpern.

    Am schlimmsten sind die Suizide. Das ist der totale Horror. Wenn der Zug eine Vollbremsung macht, dann sticht es mir schon im Bauch, weil ich weiß, was das bedeutet. Für die Lokführer ist das schon schlimm genug, einen Menschen zu überfahren. Wenn sich einer vor den Zug wirft, muss ich raus aufs Gleis. Es ist Aufgabe des Zugchefs, sich eine Warnweste anzuziehen, auszusteigen und nachzuschauen, was passiert ist. Ich bin dann verpflichtet, Erste Hilfe zu leisten, bis die Rettungskräfte kommen. Und das sind Bilder, die man nie wieder aus dem Kopf bekommt.
    Am schrecklichsten ist es nachts, wenn man im Dunkeln rausmuss und mit einer Taschenlampe die Achsen und das Gleisbett ableuchten muss, auf der Suche nach Körperteilen. Und wie erleichtert man ist, wenn es doch kein Mensch war, den es da erwischt hat, sondern nur ein Wildschwein oder ein Reh.
    Sechs Selbstmörder hatte ich bislang. Meistens konnte ich nichts mehr tun, einer hat überlebt. Der hatte Glück, na ja, wenn man das so sagen kann. Beide Beine hat er verloren, eines habe ich sogar noch gefunden, aber das war so voller Öl und Dreck, das war nicht mehr zu retten. Am nahsten ging mir der Selbstmord eines fünfzehnjährigen Mädchens, genau an dem Tag, an dem es Zeugnisse gab. Ich denke eigentlich nicht viel über die Toten nach oder was sie zu diesem Schritt getrieben haben könnte. Aber bei diesem Mädchen habe ich mir lange Gedanken gemacht, weil ich selber eine Tochter habe, die damals im gleichen Alter war.

    Es gibt auch immer mal wieder Unfälle an Bahnübergängen, die zähle ich schon gar nicht mehr. Da ist in der Regel Alkohol oder Leichtsinn im Spiel, die Leute denken: »Ach, da fahr ich noch schnell durch«, und das, obwohl die Schranke unten ist. Die unterschätzen, wie schnell so ein Zug ist.
    Es ist unmöglich, diese Bilder wieder loszuwerden. Am schlimmsten ist die erste Nacht danach. Du liegst im Bett und hast das Gefühl, das Bett macht eine Vollbremsung. Man sieht immer wieder vor sich, wie man an den Gleisen entlanggeht, man spürt, wie einem das Herz rast, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Ich wünschte, es gäbe einen Schalter, den man umlegen kann, und dann ist das alles aus dem Kopf gelöscht.
    Es ist wichtig, dass man viel darüber spricht und sich psychologische Hilfe sucht. Die Bahn gibt uns zwei Tage frei nach solchen Ereignissen, und man kann sich auch an Bahnpsychologen wenden. Aber ich habe mir bislang immer selbst Hilfe gesucht. Ich will mit so etwas nicht zum Betriebsarzt, der arbeitet schließlich für den Arbeitgeber. Die haben natürlich Schweigepflicht, aber es fällt mir da schwerer, mich wirklich zu öffnen.
    Ich habe Kolleginnen und Kollegen, die irgendwann zusammengebrochen sind. Die eine ganze Reihe Suizide gut weggesteckt hatten und dann plötzlich von heute auf morgen nicht mehr in einen Zug steigen konnten. Für die ist das Arbeitsleben vorbei, es gibt in der Regel keine andere Verwendung für sie bei der Bahn. Es gibt zwar eine bahneigene Zeitarbeitsfirma, aber da ist man wirklich
verloren und verkauft. Die können einen deutschlandweit einsetzen, da, wo sie gerade wollen. Ein normales Familienleben ist so gar nicht mehr möglich. Da gehen einige dann doch lieber zum Arbeitsamt.
    Die meisten Fahrgäste sind übrigens sehr

Weitere Kostenlose Bücher