Wir sind die Nacht
»Meine Mutter trifft der Schlag, wenn sie mich aus einem Carrera steigen sieht.«
»Könnte sein«, sagte Nora. »Wahrscheinlich kommt sie auf die wildesten Ideen … dass du auf den Strich gehst oder so. Aber früher oder später kriegt sie sowieso mit, dass irgendwas mit dir nicht stimmt.«
Was für eine weltbewegende Erkenntnis, dachte Lena. Wieso war sie eigentlich nicht auf diese Idee gekommen?
Ohne etwas zu sagen, öffnete sie die Tür, aber Nora hielt sie zurück. »Und du glaubst, deiner Mutter fällt nichts auf, wenn du mit den teuren Klunkern und einer 1000-Euro-Handtasche an ihr vorbeimarschierst?«
An Kleid und Schuhen konnte sie nichts ändern - barfuß und in Unterwäsche das Haus zu betreten wäre vermutlich auch nicht wirklich unauffällig gewesen -, aber mit der Tasche und dem Rest hatte Nora recht. Wortlos warf sie ihr die Handtasche in den Schoß und hob den Arm, um die Rolex abzustreifen, überlegte es sich dann aber anders.
Nora grinste breit. »Ist nicht so leicht, auf all das schöne Spielzeug zu verzichten, wie? Man gewöhnt sich schnell dran.«
Lena strafte sie mit Missachtung, stieg aus und warf die Tür des Porsches mit einem Knall hinter sich zu, der wahrscheinlich die halbe Straße weckte.
»Ich hole dich nach dem Dunkelwerden ab«, rief Nora ihr nach. »Sagen wir, eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, genau hier. Und morgen kümmern wir uns um einen Wagen für dich. Ich bin nämlich kein Taxi.«
Irgendwie gelang es Lena, Nora nicht den hochgereckten Mittelfinger zu zeigen, auch wenn es sie große Mühe kostete.
Diesmal stand kein schwarzer Jaguar am Straßenrand, in den man sie hineinzuzerrte, und irgendwie bedauerte Lena das. Die Erinnerungen an jene schrecklichen Augenblicke in Iwans privater Folterkammer setzten ihr zwar immer noch zu, aber zugleich brannte sie auch irgendwie darauf, ihre neuen Kräfte auszuprobieren. Sie hatte einen Menschen getötet, und dieser
Gedanke machte ihr immer noch mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte … aber da war auch ein ganz, ganz kleiner Teil in ihr, der diesen Gedanken genoss.
Fing es so an?, dachte sie schaudernd. Begann sie sich in etwas zu verwandeln, dem ein Menschenleben nichts wert war?
Lena rief sich zur Ordnung und beeilte sich nun doch, weil ihr plötzlich kalt war. Außerdem wurde die Zeit allmählich knapp. Bis Sonnenaufgang blieb ihr noch eine gute halbe Stunde, und vielleicht war sie gut beraten, in Zukunft nicht mehr alles in letzter Sekunde zu tun.
Der Gestank, der das Haus erfüllte, kam ihr hundertmal schlimmer vor als sonst und nahm ihr fast den Atem. Das Haus war auch noch lauter geworden. Die Geräusche - selbst die der Schlafenden - drangen jetzt so ungehindert an Lenas Ohr, als gäbe es die dünnen Wände und Türen gar nicht mehr. Am schlimmsten war aber tatsächlich der Geruch: menschliche Ausdünstungen aller nur vorstellbarer Art, kalter Rauch und schales Bier und Schnaps und vor allem Essensgerüche, ein unglaubliches Durcheinander, das zugleich auch sämtliche Kulturen vorzustellen schien, die in diesem Haus lebten. Die Gerüche waren ausnahmslos grässlich. Schon beim bloßen Gedanken, irgendetwas von dem essen zu müssen, was sie da roch, wurde ihr speiübel. Noch vor ein paar Stunden hatte sie mit großem Appetit Dinge gegessen, die noch viel abenteuerlicher waren, aber jetzt sammelte sich bereits allein bei der Vorstellung saurer Speichel unter ihrer Zunge. Das musste wohl auch einer von den kleinen Tricks sein, von denen Nora gesprochen hatte.
Einen weiteren Trick lernte sie ganz von selbst, während sie die knarrenden Treppenstufen hinaufeilte. Ihre Sinne waren plötzlich zehnmal so scharf wie vorher, während ihr Bewusstsein noch nicht darauf eingerichtet war, mit dieser Informationsflut fertigzuwerden, und bevor es darunter zusammenbrach,
blockte es sie einfach ab. Von einer Sekunde auf die andere war es vorbei, und Lena hatte das Gefühl, als bewegte sie sich unter Wasser oder durch Watte. Es war ein unangenehmes Gefühl, zugleich aber auch ungemein erleichternd.
Sie hielt auf dem letzten Absatz noch einmal an und sah auf die Stufe hinab, auf der Mehmet normalerweise saß und auf sie wartete. Natürlich war er so früh noch nicht da, und ein sonderbar bitteres Gefühl machte sich in ihr breit, als ihr klar wurde, dass sie ihn vielleicht auch niemals wiedersehen würde. Wie so vieles war auch Mehmet plötzlich in jener Hälfte des Tages gefangen, die sie nie wieder betreten konnte.
Statt
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