Wir sind die Nacht
ihren Weg fortzusetzen, machte sie kehrt und ließ sich neben der untersten Absatzstufe in die Hocke sinken. Sie tastete über die Wand, fand das lose Panel und öffnete Mehmets geheime Schatzkammer. Das Einmachglas war leer. Die drei Fünfziger hatten ihren Weg wahrscheinlich nie hineingefunden, sondern waren direkt ins Näschen seines Bruders gewandert. Lena fragte sich einen Moment lang, warum sie das so empörte. Sie hatte es doch eigentlich gewusst.
Als sie das Glas bewegte, klimperten einige kleine Münzen darin, nicht mehr als zwei, drei Euro, aber Hinweis genug, dass Mehmets Bruder nichts von diesem Versteck wusste.
Sehr vorsichtig, um den Verschluss nicht zu beschädigen, nahm sie die Brillantkette ab, legte sie in das Einmachglas und beförderte auch die Rolex hinterher. Mehmet würde kaum wissen, was die Sachen wert waren, und irgendein halbseidener Hehler würde ihn fürchterlich über den Tisch ziehen, aber das war ihr gleich. Immer noch besser, als wenn Holden es bekam. Vielleicht fand sie ja später noch eine Gelegenheit, mit ihrem jugendlichen Verehrer und späteren Ehemann zu reden.
Sorgfältig verschloss sie Mehmets Tresor wieder, setzte ihren Weg fort und beglückwünschte sich schließlich, so umsichtig gewesen zu sein, noch bevor sie die Wohnungstür ganz hinter
sich geschlossen hatte. Es war noch nicht einmal sechs, aber ihre Mutter war trotzdem bereits wach und saß in ihrem zerschlissenen Morgenmantel auf der Couch, mit übermüdetem Gesicht und noch zerrupfterer Frisur als sonst. Irgendetwas war passiert. Lena hätte ihre plötzlich so scharf gewordenen Sinne nicht gebraucht, um das zu spüren.
»Lena-Schatz!« Ihre Mutter klang ehrlich erleichtert, war aber auch unüberhörbar betrunken. »Gott sei Dank, dir geht es gut. Ich dachte schon, dir wäre was zugestoßen! Du warst zwei Tage weg! Was fällt dir ein, deiner armen alten Mutter so einen Schrecken einzujagen?«
Sie wollte sich hochstemmen, war aber entweder zu schwer oder zu betrunken, um es im ersten Anlauf zu schaffen, und plumpste auf die Couch zurück.
»Was ist passiert?«, fragte Lena und trat in das kleine Wohnzimmer hinein, wo sich ihre Frage von selbst beantwortete. Neben ihrer Mutter saß eine zweite Gestalt am Tisch und hielt ein Glas Bier in der Hand, das passende Getränk für diese Tageszeit.
Holden? Jetzt?
»Was soll das?«, sagte Lena scharf. »Ich weiß, dass ich unsere Verabredung vergessen habe, aber …«
»Du hast Besuch, Lena.« Holden trank von seinem schaumlosen Bier. Er saß bestimmt schon länger hier.
»Was ist hier los?«, fragte sie noch einmal. Sie beschloss, Holden genau zehn Sekunden Zeit zu geben, bevor sie es aus ihm herausprügelte.
»Schickes Kleid«, sagte ihre Mutter mit schwerer Zunge. »So eins könntest du für mich auch mal klauen … aber wahrscheinlich gibt’s das nicht in meiner Größe.«
»Wohl kaum, meine Liebe«, sagte Holden. »Die werden erst ab Größe achtunddreißig gemacht.«
Ihre Mutter kicherte, und Holden prostete ihr mit seinem
Bierglas zu. Dann machte er eine Kopfbewegung in die Richtung von Lenas Zimmer.
»Lass deine Gäste nicht warten, Lenalein. Ich glaube, die sind schon ein bisschen ungeduldig, und sie sehen nicht aus, als würden sie gern warten.«
Lena beschloss, ihn später zu verprügeln, drehte sich um und stürmte in ihr Zimmer. Oder was davon übrig war.
Zu sagen, dass es aussah, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgetobt, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Es war verwüstet, und zwar so gründlich, wie es überhaupt nur ging. Sämtliche Möbel waren zertrümmert und zusammen mit dem, was Schrank und Regale enthalten hatten, zu einer gleichmäßigen Schicht auf dem Boden verteilt, in der Glas und Plastiksplitter knirschten. Das Fenster war zerbrochen, so dass kühle Nachtluft hereindrang, und die Vorhänge wehten in Fetzen von der halb heruntergerissenen Stange. Ihre Besucher - zwei an der Zahl - hockten inmitten des Chaos und schienen jeden einzelnen Krümel zu sichten, wobei sie kaum mehr taten, als den Müll von einer Seite auf die andere zu schichten. Beide wandten Lena den Rücken zu, aber sie erkannte trotzdem, dass es sich um die übliche Zusammenstellung handelte: einen älteren erfahrenen Kollegen und einen jüngeren Partner.
»Was tun Sie hier?«, fragte sie. »Wer sind Sie, und was ist …«
Der Rest blieb ihr im Hals stecken, als die beiden Männer sich gleichzeitig umdrehten. Der ältere Mann kam ihr vage bekannt vor. Um die
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