Wir sind doch Schwestern
einen Aschepartikel vom Feuerwerk im Auge hatte. Gertrud stand einen Moment in der Mitte des Raumes, hielt die Augen geschlossen und schien die Musik zu genießen. Dann ging sie zur Tür, drehte sich noch einmal um und winkte zum Abschied. Das Winken war eine fast mädchenhafte Geste, es passte eigentlich so gar nicht zu einer Hundertjährigen, es war, als wäre die Hand einen Moment lang wieder zwanzig, ein wenig genant, ein wenig kokett. Katty sah ihrer Schwester nach, sah Paula, die sich Gertrud anschloss, und beide gingen, während Piet die letzten Zeilen von Hildegard Knefs Lied sang.
Gott sei Dank würden sie Zeit genug haben, um sich auszuschlafen, stellte sie erleichtert fest, als sie den Rest der Mannschaft verabschiedete, die Gäste würden am nächsten Morgen sicher nicht vor elf Uhr erscheinen. Katty hatte niemanden schriftlich eingeladen. Das war auch nicht nötig. Sooft sie im Dorf gewesen war, hatte sie darauf hingewiesen, dass Gertrud ihren hundertsten Geburtstag feiern würde und dass jeder, der für sie Zeit aufbringen wollte, auf dem Tellemannshof willkommen sei. Sie wusste, dass es die raffinierteste Art war, einzuladen. Wie schnell hatte man bei Einladungskarten jemanden vergessen, und dann gab es böses Blut. So war sie sich sicher, dass es sich im Dorf verbreitet hatte, sich niemandausgeschlossen fühlte und es sich zugleich niemand erlauben konnte, nicht zum Gratulieren vorbeizukommen. Für den Abend hatte sie im Kreis der Familie ein Essen im Waldrestaurant »Höfer« in Sonsbeck arrangiert. Aber da kamen auch schon hundert Personen zusammen. Wie gut, dass die Ländereien ausgekiest wurden, dachte Katty. Die ganze Region war Auskiesungsgebiet, und sie hatte einige Ländereien des Tellemannshofes für sehr viel Geld an Kiesunternehmen verkaufen können, sodass aus ihr in den vergangenen zwanzig Jahren eine halbwegs betuchte Frau geworden war. Das Geburtstagsmenü für ihre Schwester konnte sie sich locker leisten, und das machte sie stolz und zufrieden.
»Auf dich, Heinrich«, sagte sie zu dem Foto, das im Esszimmer auf dem Büfett stand, es zeigte Heinrich Hegmann gemeinsam mit Heinrich Lübke. Sie betrachtete die Männer auf dem Bild. Heinrich hatte in ihrer Erinnerung immer genau so ausgesehen, egal ob mit dreißig oder zum Schluss mit fünfundachtzig Jahren. Sie hob das Gläschen und genehmigte sich noch einen halben Schnaps. Sie musste an die Szene vorhin beim Feuerwerk denken und erneut darüber lachen. Dann gingen ihre Gedanken zurück zum ersten Feuerwerk nach Kriegsende.
31. Dezember 1945
Prosit Neujahr!
Wardt feierte, das ganze Dorf war auf den Beinen. »Frohes neues Jahr!«, hörte man aus allen Ecken, und zum ersten Mal seit Jahren duckte sich niemand, als es vom Himmel her knallte. Die Silvesterfeier in der Dorfkneipe war gut besucht, es floss viel Hochprozentiges.
Auch Heinrich und Katty waren angeheitert, und der Einfachheit halber war Heinrich für diesen Abend zum Du übergegangen. Er umarmte Katty lange und innig, als die Glocke zur Mitternacht schlug, und küsste sie auf beide Wangen.
»Alles Gute und Schöne fürs neue Jahr, liebste Katty. Bleib gesund und munter, denn ohne dich mag ich nicht mehr sein.«
Katty küsste ihn ebenfalls, vielleicht etwas stürmischer, als es sich geschickt hätte, aber sie war an diesem Abend ausgelassen und glücklich. Sie tanzte mit jedem, der sie aufforderte, lachte mal mit diesem, mal mit jenem und hatte für jeden ein paar freundliche Worte übrig. Katty war in Wardt beliebt, das wusste sie, Männer wie Frauen schätzten sie als lebenslustige Frau, die Nachbarinnen machten ihr entsprechende Komplimente. Und dennoch schauten vor allem die Frauen seit einer Weile pikiert, wenn Heinrich und Katty gemeinsam in die Gastwirtschaft kamen. Sie begannen zu tuscheln, denn es ziemte sich nicht, dass eine ledige junge Frau mit dem Hausherrn ausging, und es hatte sich herumgesprochen, dass Heinrich Hegmann seine Hauswirtschafterin bevorzugt behandelte. Kurz vor Weihnachten hatte eine der Nachbarinnen ein ernstes Wort mit Katty gesprochen und ihr gesteckt, was die Leute redeten. »Das gehört sich nicht, Katty«, hatte sie gesagt, »so vertraulich geht man nur mit seiner Ehefrau um.« Sie hatte außerdem zu berichten gewusst, dass Heinrichs Parteifreunde bereits seine Glaubwürdigkeit infrage stellten.
Im Juni war die Christlich Demokratische Union im Rheinland gegründet worden. Und eine Partei, die das »christlich« im Namen trug, musste
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