Wir sind doch Schwestern
natürlich von ihren Mitgliedern erwarten, dass diese sich entsprechend der christlichen Lehre aufführten, hatte die Nachbarin betont, das habe ihr Mann schon mehrfach bemängelt. Heinrich hatte sich inzwischen einige Male mit den Kollegen getroffen, einmal waren sie sogar auf dem Tellemannshof gewesen. Katty hatte darauf bestanden, mit an der Kaffeetafel zu sitzen, denn sie war durch Heinrichs Erzählungen zu einer glühenden Verehrerin von Konrad Adenauer geworden und hatte es sich deshalb nicht nehmen lassen wollen, dem »Alten«, wie er genannt wurde, persönlich zu begegnen. Sie hatte an dem Tag mitgeschrieben wie eine Sekretärin. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen, vielleicht hatte sie da dem Augenschein nach eine Rolle innegehabt, die ihr nicht zustand. Jetzt tratschte man jedenfalls über sie, und zwar nicht nur die Klatschtanten im Dorf, sondern selbst in Parteikreisen, und das, so fürchtete Katty, könnte ernsthafte Konsequenzen haben. Ihr war bewusst, dass sich etwas ändern musste. Eine Zeit lang hatte sie gehofft, Heinrich würde sie doch noch zu einer ehrbaren Frau machen, dass Gertrud im Unrecht wäre und er seinen Standesdünkel längst überwunden hätte. Schließlich war sie seine wichtigste Kraft auf dem Hof. Und vielleicht bin ich für ihn noch viel mehr, hatte ihr Herz gehofft, während ihr Verstand längst wusste, dass es nur ein romantischer Mädchentraum gewesen war.
Sie musste sich damit abfinden, sie war seine Hauswirtschafterin, eine Angestellte, und die führte ein seriöser Mann nicht zum Altar, schon gar nicht, wenn er sich im Kreise großer Männer behaupten musste. Diese Gedanken plagten Katty seit Langem, aber heute hatte sie keine Lust, sich damit zu quälen. Zumindest an Silvester wollte sie sich amüsieren. Die Probleme würde sie im nächsten Jahr lösen. Sie suchte im Saal nach Heinrich, und als sie ihm entgegenlief, sah es aus, als wären ihm gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen.
»Warum schauen Sie denn so traurig drein?«, fragte sie und hielt ihm als Aufforderung zum Tanz die Hand entgegen.
»Du bist eine ungestüme Person«, sagte er. »Heute Abend wird gefeiert, aber morgen reden wir über die Zukunft.«
Katty war sich nicht sicher, ob sie ihn in dem Trubel richtig verstanden hatte. Sie nickte Heinrich aufmunternd zu und zerrte ihn hinter sich her auf die Tanzfläche.
Am ersten Morgen des neuen Jahres wachte Katty auf und ahnte, dass sie gerüstet sein sollte. Man muss nur vorbereitet sein, dachte sie, es ist wie bei einem Schlag in den Bauch. Wenn man vorbereitet ist, kann man die Muskeln anspannen und den Schlag abfangen. Mit dem Herzen muss man es genauso machen: sich wappnen, anspannen, dann kann man den Stich abfangen, bevor das Herz zu bluten beginnt. Heinrich hatte ihr diese Vorbereitungszeit gegeben.
Sie gingen an diesem ersten Januar des Jahres 1946 wie jeden Sonntag und Feiertag zusammen in die Kirche. Wie immer nahmen sie gemeinsam oben an der Orgel Platz, denn von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf das Geschehen. Katty liebte diesen Platz, wenngleich er für die Frauen des Dorfes nicht ganz üblich war. Die saßen lieber unten in den ersten Reihen, um sicherzugehen, dass man sie in ihrer Gottesfürchtigkeit sah und beim Singen auch hörte. Wer singt, der betet doppelt, hieß es am Niederrhein, und deshalb schmetterten manche in der Kirche besonders laut mit, obwohl sie es vielleicht besser unterlassen hätten.
Katty und Heinrich zogen den etwas versteckten Platz neben der Orgel vor. Man konnte die Menschen beobachten, ohne selbst auf dem Präsentierteller zu sitzen, direkt nach der Kommunion die Kirche verlassen oder flüsternd ein, zwei Worte miteinander wechseln, ohne den Ablauf des Gottesdienstes zu stören.
Heute herrschte oben Platzmangel. Neben einigen alteingesessenen Bauern hatte sich auch der Kirchenchor für dieses besondere Hochamt versammelt. Katty und Heinrich standen fast auf der letzten Treppenstufe, deshalb fiel es niemandem auf, dass sie als Erste die Kirche verließen. Heinrich hatte Katty ein Zeichen gegeben, er wollte sie direkt nach der Einnahme der heiligen Oblate vor der Kirche treffen. Als er sie draußen umgehend auf den Heimweg lotste, ahnte Katty, dass Heinrich mit ihr zu reden hatte, und sie ahnte auch, dass es ihm nicht leicht fiel. Sie war gewappnet.
»Katty, ich kann nicht oft genug betonen, wie viel Sie mir bedeuten. Vor allem nach dem, was wir im Frühjahr zusammen durchgemacht
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