Wir sind doch Schwestern
schwer büßen müssen.« Und über diese Aussage grübelte Gertrud nach wie vor. War Heinrich ein Opfer seiner eigenen Taten gewesen? Mit Sicherheit hatte er viele Menschen mit seiner Arroganz ins Unglück gestürzt. Franz und sie, Katty und sogar seine Ehefrau Anna Maria. Das arme Ding, sie hatte ja keinen blassen Schimmer, worauf sie sich einließ. Gertrud erinnerte sich noch genau an diesen Tag im Januar 1946, als Katty ihr von Heinrichs Auftrag erzählt hatte, und wunderte sich, dass ihr diese Szene nach einem halben Jahrhundert immer noch so präsent war. Fast glaubte sie, sich noch an jedes Wort erinnern zu können. Vielleicht lag es daran, dass sie damals so verstört gewesen war, als sie eine Seite an Katty entdeckt hatte, die ihr vorher gänzlich unbekannt gewesen war. Gertrud standseufzend auf, sie würde jetzt nicht schlafen können. Vielleicht half das alte Hausmittel: ein Glas warme Milch. Sie legte ihr Ohr von innen an die Zimmertür, sie war nicht sicher, ob alle Gäste schon gegangen waren. Und wenn sie so, wie sie aussah, jemandem begegnete, mit offenem schlohweißem Haar und im Nachthemd, würde derjenige womöglich glauben, er habe ein Gespenst gesehen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging die paar Schritte bis zur Küche. Sie setzte sich auf einen Stuhl, um zu verschnaufen.
Sie waren auf einem Familienfest gewesen, aber Gertrud erinnerte sich nicht mehr genau, wo. Sie sah sich nur mit Katty auf einer Terrasse stehen. Katty hatte ihr lakonisch mitgeteilt, worum Heinrich sie gebeten hatte, und Gertrud war wütend geworden. Dieser Schurke, hatte sie gedacht. Reichte es nicht, dass er sie unglücklich gemacht hatte, sollte ihrer kleinen Schwester nun das Gleiche widerfahren? Sie hatte Mitleid mit Katty gehabt. Zwar hatte die von ihrem Auftrag erzählt, als habe Heinrich sie zum Saatguteinkauf geschickt, aber Gertrud war der festen Überzeugung, dass diese Gleichgültigkeit nur gespielt war. Sie schlug ihr deshalb vor, zu ihr in die Stadt zu ziehen, doch Katty wies das Angebot geradezu empört zurück.
»Bist du verrückt? Was soll ich in der Stadt? Und warum sollte ich den Hof verlassen?«
»Ja meinst du denn, eine Ehefrau würde dich auf dem Hof akzeptieren? Alles, was du mittlerweile machst, ist Aufgabe der Hausherrin!«
»Das ist doch Unsinn«, entgegnete Katty patzig. »ich kann mich ruhig weiterhin um alles kümmern, dann haben Herr und Frau Hegmann wenigstens genug Zeit für den Erben.«
»Katty«, in ihrer Erinnerung hatte Gertrud ganz sanft geklungen, doch wenn sie ehrlich war, konnte es auch gut sein, dass sie aufbrausend geworden war, »keine kluge Frau der Welt wird eine andere Frau auf dem Hof akzeptieren, die dem Ehemann so …«, sie machte eine kurze Pause und suchte nach dem passenden Ausdruck, »eng verbunden ist«, fiel ihr schließlich ein.
»Na, dann muss es eben eine dumme Frau sein«, lautete die Erwiderung, und Gertrud war erschrocken über die Wucht und Kälte in Kattys Stimme. Damals war ihr klar geworden, dass ihre Schwester, genau wie Heinrich, Einfluss haben wollte und ihren Status mit allen Mitteln verteidigen würde.
»Das kannst du nicht machen«, flehte sie beinahe, aber Katty blieb hart.
»Warum nicht? Gesellschaftlichen Stand und Fruchtbarkeit, das ist alles, was wir brauchen. Ich lasse mich jedenfalls nicht vom Tellemannshof verdrängen.«
»Sag mal, wie redest du denn? Du kaufst doch keine Zuchtstute, du sollst ihm eine Ehefrau suchen. Schäm dich. So ein Verhalten hat kein Mensch verdient, weder Heinrich noch seine zukünftige Ehefrau. Das sind Stolz, Eitelkeit, Zorn und Eifersucht obendrein. Eine schöne Ansammlung von Todsünden.«
»Mit Eifersucht hat das nichts zu tun«, entgegnete Katty, »und jetzt tu nicht so frömmlerisch. Sonst wünschst du Herrn Hegmann doch auch immer die Pest an den Hals, dann wollen wir mal schauen, ob wir die nicht irgendwo finden können.«
Mit dem letzten Satz hatte sie wohl versucht, ihren Worten die Wucht zu nehmen und mit einem Scherz aus dem Streit herauszukommen, aber Gertrud konnte nicht einstimmen. Ihr war das Lachen regelrecht im Halse stecken geblieben, die Reaktion ihrer Schwester war ihr beinahe unheimlich.
»Wenn du bleiben willst, dann suche eine Frau, die ebenfalls gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Sicherheit sucht. Wenn sie romantisch ist, wird sie dir Ärger machen.« Den Rat hatte sie Katty noch mit auf den Weg gegeben, und sie hatte nicht geahnt, wie recht sie damit haben
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