Wir sind doch Schwestern
Augen sagten. Sie baten um Verzeihung, sie bettelten um Verständnis, und Katty wusste in diesem Moment, dass Heinrich niemals einer anderen Frau gehören würde.
Der 100. Geburtstag – Sonntag
Eine sogenannte Frau Hegmann
Welch ein netter Mann. Sie war manchmal ungerecht und zu vorschnell in ihren Urteilen über Menschen, schalt Gertrud sich. Piet war wirklich reizend gewesen und wie schlecht hatte sie am Morgen noch über ihn gesprochen.
Gertrud lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Kein Wunder, dachte sie, sie hatte den Tag über noch mehr Kaffee getrunken als üblich, zudem gerade eben ein Glas Sekt, das hatte den Kreislauf zusätzlich in Schwung gebracht. Und nun lag sie da, wollte sich eigentlich für den kommenden Tag erholen, war aber hellwach. Piets Abschiedsständchen war wirklich rührend gewesen und sie war Katty sehr dankbar dafür, dass sie solche Momente noch erleben durfte. Wie viele Menschen hatten schon Schwestern, die so aufopferungsvoll Feste gestalteten. Bei dem Gedanken musste sie lachen, weil natürlich auch ein Funken Ironie darin war. Aber sie wusste die Mühe, die Katty sich gab, durchaus zu schätzen. Beinahe stoisch ertrug Katty all ihre Launen, selbst wenn sie sie provozierte. Das ging über das hinaus, was man als selbstverständlich betrachten durfte, und zwar nicht nur an ihrem Geburtstag. Gertrud wusste sehr genau, dass Sorge um ihr Wohlergehen die Schwester umtrieb und dass es vernünftig wäre, bei ihr einzuziehen. Aber sie ahnte auch, dass sie in puncto Vernunftdazu neigte, Wasser zu predigen und Wein zu trinken. Ihr fiel es leicht, anderen Menschen kluge, nüchterne Ratschläge zu geben, aber wenn es um ihr eigenes Leben ging, gelang es ihr nicht immer, rationale Entscheidungen zu treffen. Das Gespräch mit Paula hatte sie berührt und nachdenklich gemacht, und sie fragte sich, ob sie tatsächlich verzeihen könnte. Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber nachdachte, aber durch Paulas Bekenntnis vorhin schien Vergebung für sie mit einem Mal eine Aufgabe geworden zu sein, die man bewältigen konnte, auch nach so vielen Jahren.
Sie bemühte sich, das schwere Federbett von den Beinen zu schieben. Es ist zu warm hier in diesem Zimmer, wer soll denn da schlafen können, Katty heizt einfach zu stark, ärgerte sie sich.
Paula hatte sie vorhin gefragt, warum sie sich so dagegen wehrte, hierherzuziehen. Sie konnte die Frage nicht wirklich beantworten. Paula, die mittlerweile bei ihrer Tochter lebte, hatte ihr erzählt, wie angenehm das Leben war, wenn man sich um manche Dinge nicht mehr kümmern musste. Es sei mitnichten ein Schritt in die Abhängigkeit, sie mache, was sie wolle, und müsse manche Dinge, die sie nicht wolle, einfach nicht mehr tun.
»Du willst mir doch nicht sagen, dass du mit hundert Jahren gerne aufräumst und zum Staubwischen unters Bett kriechst, oder?«, hatte Paula sie geneckt, als sie gemeinsam am Waschbecken standen, um sich bettfertig zu machen. Es war fast ein bisschen wie damals in Empel gewesen, als sie Jugendliche gewesen waren und das Leben noch vor sich hatten. Dann hatte Paula zu lachen begonnen. »Das hätte sich der alte Hegmann sicher nicht träumen lassen, dass wir zwei mal in seinem Badezimmer stehen und unsere Dritten schrubben.« Die Vorstellung hatte auch Gertrud amüsiert, und Heinrichs Namen in Zusammenhang mit klappernden Gebissen zu erwähnen, hatteihm in diesem Moment etwas von seiner Bedeutsamkeit genommen. Falls das Paulas Plan gewesen war, so hatte er funktioniert. Danach hatte ihre Schwester sie gefragt, ob Katty ihr jemals erzählt habe, was während der Zeit der Evakuierung auf dem Hof passiert sei, und Gertrud hatte das erste Mal ausgesprochen, was sie immer schon gedacht hatte: dass Heinrich Katty geliebt habe.
Warum er sie dann nicht geheiratet habe, hatte Paula eingewendet.
»Selbst wenn er sein Standesdenken überwunden hätte, hätte er niemals ›eine Franken‹ heiraten können, nachdem er seinem Bruder diese Liebe verboten hat. Er hätte mit einer solchen Hochzeit auf das Grab seines Bruders gespuckt. Ich weiß, dass er so gedacht hat«, hatte Gertrud erwidert und sich gewundert, wie offen sie auf einmal über vieles sprachen.
Paula hatte mit einem für sie so typischen Satz geantwortet, der zunächst unbedarft klang, bei näherer Betrachtung allerdings wie eine Lebensweisheit anmutete:
»Wenn Heinrich Katty wirklich geliebt hat, er diese Liebe aber niemals leben durfte, dann hat Heinrich für seine Fehler
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