Wir sind doch Schwestern
Stimmung kippte: »Da reden jetzt aber zwei Blinde vom Sehen.«
Ihre beiden Schwestern verzogen keine Miene. Paula seufzte. Das Kind war schon in den Brunnen gefallen. Vielleicht waren sie alle drei nicht gerade berufen, sich über glückliche Partnerschaften auszulassen. Katty hatte anscheinend ähnliche Gedanken.
»Was wissen wir alten Weiber schon, wie die jungen Leute heutzutage umeinander freien. Das ist doch alles ganz anders. Mittlerweile machen die Frauen schon den Heiratsantrag.«
»Vielleicht ist er auch schwul, pöhöhö.« Paula freute sich über die gelungene Provokation. Jetzt werden die beiden sich gleich Seite an Seite auf mich stürzen, dachte sie, aber wenigstens behakeln sie sich dann nicht gegenseitig. Sie spürte, wie Katty und Gertrud sie ins Visier nahmen, und tat, als würde sie es nicht bemerken. »Was soll’s. Es gibt wirklich Schlimmeres als schwule Ehemänner. Ich sage euch, am Ende hast du alles, was du willst: herzensgute Kinder und deine Ruhe.« Paula wusste nicht genau, welcher Teufel sie da ritt, und noch ehe sie darüber nachdenken konnte, hörte sie, wie Gertrud mit angestrengter Stimme die Diskussion beendete.
»Hast du vergessen, was er euch angetan hat? Ich will nicht darüber reden.« Gertrud hatte mit einer solchen Bestimmtheit gesprochen, dass Paula hinter jedem Wort ein Ausrufezeichen wahrnahm.
Nach all den Jahren gab es zwischen ihnen sehr viel vermintes Gelände, was Paula oft bedauerte. Die Geschichte mit Alfred war bis heute ein Tabu. Sie war geschieden. Zunächst war Paula am Boden zerstört gewesen, doch dann hatte sie festgestellt, dass sie ihren Mann noch immer mochte und dass sie in der Lage war, Verständnis und Mitleid aufzubringen. Heimlich hatte sie Kontakt zu ihm gehalten. Zu ihm und zu dem Mann, der ihn bis zum Tode gepflegt hatte. Das alles war hinter dem Rücken ihrer Schwestern passiert. Gertrud und Katty hätten kein Verständnis dafür aufgebracht, vermutete Paula. Außerdem sprach man in der Familie über gewisse Dinge einfach nicht. Man schwieg sie tot. Sture Niederrheiner sind wir, stellte Paula wieder einmal fest, diskutieren, das ist einfach, das konnten wir immer schon, aber ehrlich sagen, was man fühlt, das haben wir nie gelernt. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, besann sie sich, vielleicht ist der Moment gekommen, da alles auf den Tisch muss. Viel länger können wir kaum warten, wir sind schließlich keine sechzig mehr. Sie beobachtete ihre ältere Schwester einen Moment, so gut es ihr grauer Star zuließ. Gertrud atmete heftig und sog dabei die eingefallenen Wangen noch mehr ein als gewöhnlich. In letzter Zeit war sieetwas nachlässiger geworden mit ihrem Äußeren. Vielleicht konnte sie auch nur noch schlechter sehen als bei ihrem letzten Treffen, aber es schien Paula, als habe die Schwester ihr weißes Haar unordentlicher als sonst am Hinterkopf zusammengefummelt. Waren sie unter sich, nahm Gertrud mittlerweile ihre Dritten aus dem Mund, so auch heute. Wenn sie sich dann aufregte, sah es so aus, als würde sie sich selbst verschlucken. Das ganze Gesicht zog sich nach innen, um hörbar wieder ausgepustet zu werden. »Phuh, phuh, phuh«, machte es, und Paula wurde wieder einmal bewusst, dass ihnen nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Sprach man sich also besser noch mal aus, bevor es zu spät war, oder ließ man alles auf sich beruhen? Paula war sich nicht sicher. Sie sorgte sich um ihre Schwester, die inzwischen ganz schön klapprig geworden war. Gertrud war immer schon zu dünn gewesen. Paula wunderte sich, dass ausgerechnet die Älteste von ihnen so lange durchgehalten hatte. Hundert Jahre, die meisten davon war sie verbittert gewesen. Sie hatte viel erlebt und viel gesehen, aber Spaß hatte sie nur wenig gehabt.
Der Moment war verstrichen, die Stimmung hinüber. Katty und Paula mussten sich nicht einmal in die Augen schauen, um zu wissen, dass sie jetzt nicht mehr mit ihrer Schwester über den Umzug sprechen würden.
»Leg dich ein wenig hin, Gertrud. Heute Abend kommen die Landfrauen. Dann willst du doch dabei sein.« Katty war aufgestanden und räumte das Geschirr ab. Paula versuchte gar nicht erst, ihr zu helfen. Ob die Tassen und Teller bei ihren schlechten Augen heil in der Küche angekommen wären, war mehr als fraglich. Sie hatte grauen Star und grünen Star und im Prinzip war sie einfach alt, dachte sie oft. Sie konnte zwar noch sehen, aber ihr Blickfeld war mittlerweile so zusammengeschrumpft, dass sie das Gefühl
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