Wir sind doch Schwestern
hatte, permanent durch ein Schlüsselloch zu gucken. Das Blut hatte wohl keine Kraftmehr, um in jeden Winkel ihres Körpers zu gelangen. Aber sie war heilfroh, dass es noch ins Gehirn kam. Blind ging noch, blöd hätte sie nicht ertragen.
Sie stand auf und ging langsam und ein wenig gebeugt durch den Garten, die gewohnte Strecke. Das Zusammenspiel von Stock und Gedächtnis funktionierte prächtig. Wenige Schritte hinter ihr ging Gertrud, vermutlich immer noch kerzengerade, nur ein wenig langsamer. Sie waren beide schlohweiß, hatten aber noch volles Haar. Vor allem Paula. Da war sie penibel. Einmal in der Woche ging sie zum Friseur und ließ sich die Haare waschen und legen. Ihre Haare waren immer ihr ganzer Stolz gewesen.
Auch Katty, die mittlerweile ziemlich füllig um die Hüften war und in ihrem Watschelgang dicht vor ihr lief, damit sie sich im Notfall an ihr abstützen konnte, hatte noch ordentlich Haare auf dem Kopf, die jetzt in der Nachmittagssonne blond schimmerten. Echt oder gefärbt, fragte sich Paula nicht zum ersten Mal und nahm sich vor, ihre Schwester bei Gelegenheit mit dieser Frage aufzuziehen. Das war wenigstens ein unverfängliches Thema in diesem Haus.
Der 100. Geburtstag – Donnerstag
Die Wahrheit über Wolodomir
Am frühen Abend kamen die Landfrauen auf den Tellemannshof. Fünf Frauen aus der Nachbarschaft wollten mit Katty die Festvorbereitungen planen. Gertrud faszinierte es, dass nicht nur das Fest geplant wurde, sondern auch die Festvorbereitungen, aber so war es bei Katty immer schon gewesen. Für den kommenden Tag wurde nämlich die gesamte Nachbarschaft mit Frauen, Männern und Kindern auf dem Hof erwartet, um das Haus mit einem Fichtenkranz zu schmücken. Bei solch einem traditionellen Kränzabend bastelten die Frauen aus Krepp kleine Papierröschen und banden sie mit einem Draht an Tannengrün, um das Werk anschließend über der Eingangstür zu drapieren, damit jeder, der vorbeikam, sehen konnte, dass es in diesem Haus etwas zu feiern gab. Solch ein Abend musste ebenfalls vorbereitet werden, denn er war im Grunde ein eigenständiges Fest. Deshalb kamen die Frauen bereits an diesem Abend vorbei, um zu beratschlagen.
Es galt in Wardt als selbstverständlich, dass bei einem hundertsten Geburtstag das ganze Dorf mithalf. Xanten ist keine fünf Kilometer von hier entfernt, dachte Gertrud, und dennoch wäre so etwas dort nicht denkbar. Sie hatte jahrelang in Duisburg gewohnt, doch irgendwann hatte sie die Anonymität nicht mehr ausgehalten und war nach Xanten gezogen.Manchmal war ihr nun selbst Xanten zu groß, obwohl man sie dort in fast jedem Laden kannte.
Gertrud wusste, dass sich die Gäste heute in der ehemaligen Gesindeküche trafen. Sie selbst ging nicht gern dorthin, denn man musste einen kurzen dunklen Flur entlanglaufen, der leicht abschüssig war. Schon seit einer ganzen Weile hatte sie mit diesem Flur Probleme. Als Gertrud endlich durch die Schiebetür in die untere Küche trat, hatten die Frauen bereits Platz genommen. Jetzt standen sie alle der Reihe nach wieder auf.
»Guten Tag, Frau Franken«, »Wie geht es Ihnen, Frau Franken?«, »Sie sehen großartig aus, Frau Franken«, »Wie schön, dass Sie hier bei uns feiern«, schallte es ihr entgegen.
»So, wollen wir nicht erst mal ein Schnäpschen trinken?«, fragte sie etwas verlegen nach den vielen netten Worten in die Runde. Die Frauen hatten bereits ein Gläschen vor der Nase, Katty war immer noch eine perfekte Gastgeberin, und so prosteten sie einander zu.
»Was haben wir denn nötig, wie viele werden kommen?«, fragte ihre kleine Schwester geschäftig. Gertrud wunderte sich, dass Katty so schnell zur Sache kam. Normalerweise ließ sie sich mit der Arbeit Zeit und plauderte erst noch ausführlich über den neuesten Dorfklatsch.
Eine der Frauen zählte die Namen aller Nachbarn auf und erläuterte jeweils, ob die Kinder mit von der Partie wären, und wenn nicht, warum nicht.
»Und wie viele waren das jetzt?«, beendete sie ihre Aufzählung. Die anderen Frauen guckten nach rechts, nach links, dann brachen sie in Gelächter aus. Gertrud lachte mit. Alle hatten den Ausführungen zur Nachbarschaft gelauscht, niemand hatte mitgezählt. »Komm, schnell noch einen Schnaps und dann noch mal von vorne!«, rief Katty. Jede leerte ihr Glas, dann begann die Litanei erneut. Diesmal hatten alle Anwesenden mitgezählt. Sie kamen nur unglücklicherweise zu unterschiedlichen Ergebnissen.
»Wenn ich jetzt noch einen Schnaps trinke,
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