Wir sind doch Schwestern
Schmied des Dorfes hatte seine Ausstattung mit auf den Hof gebracht. Er hatte das Geschäft gerade erst von seinem Vater übernommen. Paula kannte ihn, seit er ein Kind war. Sie konnte das Lodern des Feuers in dem kleinen Schmiedeofen hören, und selbst mit ihren schlechten Augen sah sie darin das hellorange glühende Eisen.
»Was macht denn der Schmied da?«, fragte sie eine Nachbarin, die jetzt neben ihr stand.
»Das soll eine besondere Überraschung für Gertrud sein. Heinz, erklär uns doch mal, was du vorhast.«
Heinz schnaufte heftig, während er sprach. »Bei der Hundert kann man ja nicht mit Pappe ankommen, hab ich mir gedacht. Da muss was Haltbareres her. Etwas Unvergängliches.« Bei Geburtstagen wurde der Kranz über der niederrheinischen Haustür üblicherweise von einer Zahl gekrönt, die gewöhnlich aus goldener Pappe war. Für den hundertsten Geburtstag wollte Heinz eine Zahl aus Eisen schmieden, die er zu Hause vorbereitet hatte. Er hatte Schmiedeofen, Amboss und Hammer dennoch mitgebracht, wohl auch, um ein bisschen mit seiner Stärke zu beeindrucken, dachte Paula und musste zugeben, dass es ihm gelungen war. »Für Gertrud!«, sagte der Schmied, warf den Kopf in den Nacken, schluckte einen Korn, nahm seinen Hammer und schlug in gleichmäßigem Rhythmus auf die eiserne Zahl. Nach zehn Schlägen reichte er den Hammer dem Nächsten, der ihn nach zehn weiteren Schlägen an seinen Nebenmann weitergab. »Jetzt bist du dran. Hundert Schläge für Gertrud.«
Der Schnaps machte erneut die Runde, der Hammer ebenfalls, und es war anrührend, wie sehr sich die Nachbarschaft für Gertruds Geburtstag ins Zeug legte. Paula nahm sich vor, ihr am nächsten Morgen alles haarklein zu berichten.
Als die eiserne Hundert geschmiedet war, standen alle im Halbkreis und klatschten, während Heinz auf die Leiter stieg und den Kranz über der Eingangstür befestigte. Paula schaute ebenfalls nach oben, aber sie konnte nur noch schemenhafte Umrisse erkennen. Vor ihrem inneren Auge stand da oben ein anderer Mann auf der Leiter.
11. Juli 1948
Am Strang
»Alfred, was tust du denn? Komm da runter, du feiger Hund!«, herrschte Paula ihren Ehemann an. Sie war nicht überrascht, ihn so vorzufinden. Sie war nur von sich selbst überrascht, dass sie einen kühlen Kopf bewahrte. Alfred stand auf einer Leiter. Er trug seine Arbeitshose, darüber ein fein säuberlich gebügeltes weißes Hemd. Ein dickes Seil baumelte über seiner Schulter, das eine Ende zu einer Schlinge geknotet, die um seinen Hals lag, das andere versuchte er verzweifelt über den Dachbalken der alten Scheune zu werfen. Er stand bereits auf dem obersten Tritt, doch anscheinend schlotterten ihm die Knie so sehr, dass er nicht in der Lage war, den Dachbalken zu erreichen.
Selbst dazu ist er nicht Manns genug, dachte Paula. Einen Moment überlegte sie, ob diese Strangulationsmethode vielleicht zu seinem absonderlichen Repertoire gehörte. Sie hatte davon reden hören. Es gab angeblich Männer, die es erregte, wenn sie keine Luft mehr bekamen, und so mancher hatte schon mit verdrehten Augen seine letzten Minuten erlebt, weil ihm die Luft länger ausgeblieben war, als ihm hatte lieb sein können. Aber niemand wäre wohl so blöd, seine Gelüste an einem Dachbalken hängend ausleben zu wollen, nicht einmal Alfred.
Obwohl der sich wirklich schon dämlich genug angestellt hatte. Fast dreißig Jahre waren sie jetzt verheiratet, hattenzwei erwachsene Töchter, und all das hatte er mit Füßen getreten, in den Schmutz gezogen. Er hatte sie zum Gespött der Leute gemacht. Und er hatte ihren Vetter in den Tod getrieben. Wobei noch die Frage blieb, ob man mit diesem Mitleid haben musste. Immerhin hatte er die Perversion mitgetrieben. Auch er, Peter, ein Familienvater, zumindest ein Familienvater in spe. Es war widerlich. Als alles aufflog, hatte sich Peter eine Waffe an die Schläfe gesetzt und abgedrückt. Dass Alfred es ihm jetzt nachtun wollte, konnte Paula nicht zulassen. Er sollte gefälligst büßen, und zwar auf Erden, sie wollte für Alfreds Hölle gerne persönlich sorgen.
Sie legte den Kopf in den Nacken und rief: »Jetzt hör schon auf mit dem Unsinn, du schaffst es ja doch nicht. Du erbärmlicher Mistkerl, du solltest dich schämen für das, was du mir angetan hast!«
»Das tue ich«, antwortete Alfred kläglich. Versunken starrte er auf den Strick. Dann riss er sich offenbar aus seinen Todesgedanken los, kam die Leiter herunter und legte den Strick über die
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