Wir sind doch Schwestern
Homosexualität gedeckt zu haben. Andererseits entsprach ein solches Vorgehen so gar nicht ihrem Charakter, und sie fühlte sich mehr als unwohl damit. Im Grunde war sie ganz dankbar für Gertruds Ratschlag. Die älteste Schwester galt seit dem Tod ihres Vaters als Familienoberhaupt und moralische Instanz, und als solche lieferte sie Paula eine hervorragende Entschuldigung, um nicht gegen Alfred vorgehen zu müssen. Offiziell würde sie aus Familienräson schweigen, in Wahrheit aus alter Verbundenheit. Sie ging ein paar Schritte auf die Leiter zu, auf der Alfred eben gestanden hatte, und rüttelte daran. Die Klappleiter stand fest und sicher auf vier Beinen, und Paula war plötzlich froh, dass Alfred noch lebte. Nach all den Jahren fiel es ihr schwer, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen.
Sie hatte Alfred schon mit achtzehn kennengelernt. Da sie beide sehr neugierig auf die Liebe gewesen waren, hatten sie so schnell wie möglich heiraten wollen, aber dann war ihnen die Geschichte mit Gertrud und Franz dazwischengekommen.
Es gehörte sich nun mal so, dass die ältere Schwester zuerst heiratete. Und so warteten Paula und Alfred zunächst geduldig. Nach Franz’ Tod nahm die Trauer in der Familie Oberhand, und außer Paula und Alfred dachte niemand mehr ans Heiraten. Ihnen fehlte der Mut, das Thema anzusprechen, doch sie hatten bald genug vom frömmelnden Warten und probierten im Heuschober die Liebe. Erst ungelenk, dann mit wachsender Begeisterung und großem Eifer. Und so kam es, wie es kommen musste.
Paula wachte morgens auf und fühlte sich hundeelend. Sie hielt es höchstens ein paar Minuten aus, bis sie ihr warmes Bett verlassen musste, hinaus auf den Hof stürzte und sich, an die Mauer des Hühnerstalls gelehnt, übergab. Danach war ihr wohler. Sie frühstückte, ging ins Lehrerseminar und alles schien in Ordnung. Bis sich das ganze Spiel am nächsten Morgen wiederholte und am übernächsten auch. Sie ging zuihrer Mutter, und die wurde blass. »Geh beichten, du musst sofort beichten gehen. Nur der liebe Gott kann dir noch helfen.«
Paula war verwirrt, vor lauter Angst musste sie sich gleich wieder übergeben. Das, was da aus ihrem Magen kam, war rötlich und leicht entzündet, und Paula war fest davon überzeugt, dass sie Blut spuckte und es mit ihr zu Ende ging.
Als sie dem Pfarrer gegenübersaß, begann sie zu weinen und schluchzte, sie habe Angst vor dem Tod. Sie sei bereit, für ihre Sünden zu büßen, aber sterben wolle sie nicht. Der Pfarrer zeigte wenig Mitleid.
»Warst du unzüchtig, Tochter?«
Paula schwieg.
»Ich frage dich noch einmal: Hast du mit einem Mann Unzucht getrieben, Paula Franken?« Die sonore Stimme des Pfarrers klang drohend und unheimlich, ein bisschen so, als würde der liebe Gott höchstpersönlich durch ihn hindurch sprechen. Paula schluckte.
»Ja, Vater, verzeih mir. Ich habe bei einem Mann gelegen.«
Paula war klar, dass sie mit Alfred eine Sünde begangen hatte, aber sie begriff den Zusammenhang zu ihrer Krankheit nicht. Sicher, wer sündigte, der wurde für seine Sünden bestraft. Doch so schlimm, dass sie gleich die Todesstrafe erhielt, fand Paula ihr Vergehen nun auch wieder nicht. Ob Gott mit sich diskutieren ließ?
»Bitte, Vater, ich mache alles wieder gut. Ich will weiterleben. Ich könnte zu meiner Schwester ins Kloster gehen. Aber bitte lass mich noch nicht sterben!«
»Du wirst büßen«, dröhnte der Pfarrer, »bete, spende und sage deinen Eltern, dass du bald heiraten musst!«
Und da verstand Paula. Natürlich! Frauen bekamen kleine Kinder, wenn sie bei Männern lagen. Das kannte sie doch aus der Bibel. Ständig lag irgendein alter Mann bei einer altenFrau, und plötzlich wurde die Welt bevölkert. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie bekam ein Kind. Dagegen war doch nichts einzuwenden, sie und Alfred liebten sich schließlich. Gut, da war noch die leidige Sache mit der Sünde, aber das würden sie schon irgendwie wieder hinbiegen.
»Vater, das ist ja wunderbar«, entfuhr es ihr. Schnell biss sie sich auf die Lippen. »Ich meine, ich bin sicher, dass der liebe Gott mir in seiner Güte verzeiht. Was soll ich beten – und wann dürfen wir heiraten müssen?«
So hatten Paula und Alfred im Mai 1920 endlich die lang ersehnte Ehe geschlossen. Paula hatte ihre erste Tochter und vier Jahre später eine zweite bekommen. Alfred war ein liebevoller Vater, und auch zwischen ihnen beiden war alles in bester Ordnung, sie lachten viel miteinander, neckten sich und hatten
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