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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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Xanten einen Stapel Bücher ans Bett gelegt, die sie in- und auswendig kannte. Hauptsache, die Nacht ging irgendwie vorbei.
    Sie hatte sich früher einmal gefragt, ob es ihr gelingen könnte, jeden einzelnen Tag ihres Lebens zu erinnern. Die Ideewar ihr gekommen, weil sie »Der Fremde« von Albert Camus in die Finger bekommen hatte. Darin stellte die Hauptfigur Meursault fest, dass man Jahre seines Lebens nur mit Erinnerungen verbringen konnte, ohne das Bedürfnis nach weiteren Erlebnissen. Gertrud hatte damals beschlossen, nachts ihr Leben noch einmal zu leben. Die Idee, jeden einzelnen Tag zu rekonstruieren, hatte sie jedoch schnell fallen lassen, stattdessen bemühte sie sich, wenigstens jedes einzelne Jahr mit einem Stichwort zu versehen. Das war eine wunderbare Beschäftigung und es trainierte das Gehirn. Außerdem hatten schlaflose Nächte für Gertrud fortan ihren Schrecken verloren. Sie freute sich geradezu auf die wachen Stunden, in denen sie etwas wie ein ganz privates Kreuzworträtsel löste, über dem man stundenlang knobeln konnte. Wenn sie auf diese Weise ihr Leben betrachtete, versuchte sie, auf Abstand zu gehen, es war, als würde sie sich an das Leben eines anderen Menschen erinnern oder als würde sie ein Gedicht aufsagen. Es war anders als die Tagträume, die sie ab und zu heimsuchten. Die Erinnerungen der Nacht schmerzten nicht, sie waren nüchterner, und das war auch gut so. Insgesamt war Gertrud zufrieden mit ihrer Gedächtnisleistung. Sie knipste die Lampe an und tastete nach dem Büchlein auf dem Nachttisch, das sie immer bei sich trug. Ein kleiner Bleistift war mit einer Zierkordel daran befestigt. Sie richtete sich im Bett auf, blätterte die Seiten um und fand als letztes Stichwort, das sie aufgeschrieben hatte, »Löffelchen verschluckt«. Es erinnerte sie an eine Geschichte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ihr Bruder Josef war noch ein Kleinkind gewesen, und ausgerechnet der stramme kleine Bursche wollte plötzlich keine Nahrung mehr bei sich behalten. Was immer er zu sich nahm, spuckte er sofort wieder aus. Nach ein paar Tagen aß er schließlich überhaupt nicht mehr. Die Familie ging zum Arzt; der schaute dem Kind tief in den Rachen und schüttelte den Kopf. Der Kleine hat ein Löffelchen verschluckt, vermutete er. Gertrud war damals fünfzehn und hielt ihr Brüderchen fest, während der Arzt mit einer Zange in Josefs Rachen herumwühlte. Nach einer Weile gab er auf und erklärte, dass er dem Jungen keine Überlebenschance geben würde. Und tatsächlich sahen sie in diesem Moment, wie Josefs Äuglein leblos wurden. Doch nur kurze Zeit später hörte man ein Heulen und Würgen aus dem Zimmer, in das man ihn gelegt hatte. Der Kleine hatte das, was ihn quälte, im hohen Bogen ausgespuckt und war jetzt sehr hungrig. Neben ihm fand man eine bronzene Kriegsgedenkmünze aus dem Kaiserreich. Darauf die Inschrift »Gott war mit uns, ihm sei die Ehre«. Von wem die Münze stammte, wusste niemand, aber ihre Inschrift wertete Gertruds Mutter als ein Zeichen und sie wurde von diesem Moment an noch religiöser, als sie es ohnehin schon war.
    Eine Geschichte, die typisch war für ihre Familie, überlegte Gertrud und beschloss aufzustehen. Ihr tat der Rücken weh. Kein Wunder, dachte sie, bei dieser weichen Matratze. Außerdem lag sie seit dem Nachmittag, das konnte nicht gesund sein. Sie setzte sich vorsichtig auf den Bettrand und zog sich am Nachttisch in eine aufrechte Position. Eine Weile hielt sie sich noch fest und wartete, bis sich der Schwindel gelegt hatte.
    Auf dem Weg ins Wohnzimmer machte sie an Kattys großem Bücherregal halt und musterte die Buchrücken in Augenhöhe. Ein orangefarbenes schmales Buch fiel ihr auf. Sie zog es heraus: »Es geschah im Nachbarhaus« von Willi Fährmann, einem Jugendbuchautor aus Xanten. Fast jeder am Niederrhein hatte mindestens ein Exemplar in seiner Bibliothek stehen, und in Xantener Schulen gehörte die Lektüre zum Pflichtprogramm. Das Buch erzählte eine wahre Geschichte, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Xanten ereignet hatte, über die Freundschaft zweier Jungs, deren Toleranz auf eine harte Probe gestellt wurde. Gertrud nahm das Büchlein mit ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen zwei leere Tassen, daneben lag ein alter Aktenordner. Warum kann sie nicht einmal aufräumen, bevor sie ins Bett geht, brummte Gertrud. Sie hatte kein Verständnis für Kattys Nachlässigkeit. Wenn ihre kleine Schwester müde wurde, ließ sie alles stehen und

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