Wir sind doch Schwestern
liegen, wie es war, und räumte frühestens am nächsten Morgen auf. Für Gertrud war das ein Graus. Wenn sie morgens ins Wohnzimmer kam, wollte sie, dass es so frisch und sauber war wie ein junger Morgen. Unordnung hätte ihr das Gefühl gegeben, der Tag sei schon längst angebrochen und sie zu spät dran. Sie überlegte kurz, ob sie aufräumen sollte, entschied sich aber dagegen, ließ sich in den hässlichen Ohrensessel fallen und schlug das Buch auf. Sie las ein paar Zeilen und war überrascht. Sie hatte vergessen, dass einer der beiden Freunde Karl hieß. Gertrud dachte an »ihren« Karl und daran, was zwischen ihnen passiert war. Sie schämte sich immer noch. Hätte ich damals anders handeln können?, fragte sie sich. Wie sehr konnten wir uns denn von Konventionen freimachen? Hatten wir wirklich einen Spielraum, um Menschen zu lieben, die anders dachten, anders glaubten und anders lebten? Ob er den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, ob er heute noch lebte? Gertrud hatte nie wieder etwas von Karl gehört und empfand auf einmal ein tiefes Bedauern darüber.
23. Juli 1927
Zwei Welten
Gertrud genoss die Sonnenstrahlen im Nacken. Sie hatte einen Kaffee bestellt und sich dazu ein Erdbeertörtchen gegönnt. Alma saß ihr gegenüber, mit dem Rücken zur Spree. Sie war eine ihrer Kolleginnen, beide unterrichteten sie Deutsch, Geschichte und Mathematik. Alma war neugierig, fast ein bisschen draufgängerisch. In Zeitschriften hatte sie von dem beschwingten Leben in Berlin gelesen und war so begeistert gewesen, dass es ihr tatsächlich gelungen war, die eher spröde Gertrud zu überzeugen, sich mit ihr in den Sommerferien auf den Weg zu machen. Gertrud sehnte sich nicht unbedingt nach Abenteuern, aber sie war wissbegierig, und Berlin war reich an Kultur und Geschichte. Sie wollten die großen Sehenswürdigkeiten besichtigen, außerdem in eines der berühmten Revuetheater gehen, nur kurz, um zu wissen, was darin passierte, falls eine ihrer Schülerinnen danach fragen sollte, und selbstverständlich standen das Brandenburger Tor und das Reichstagsgebäude auf dem Programm. Gertruds Beinaheschwager Heinrich tummelte sich hier in der Politik, er wollte bei den Wahlen im kommenden Jahr als Abgeordneter für den preußischen Landtag kandidieren, munkelte man am Niederrhein.
Gertrud hatte Heinrich nicht mehr gesehen, seit er vorneun Jahren mit der Todesnachricht auf den Hof gekommen war. Katty hatte ihr erzählt, dass er inzwischen verheiratet war, mit einer geborenen Thiemann. Ausgerechnet, dachte Gertrud, hatte er die nicht damals auch seinem Bruder zur Heirat empfohlen, als Gertrud den Streit der beiden im Flur belauscht hatte? Von einer Thiemann hatte Heinrich jetzt also nicht nur eine große Mitgift, sondern auch einen Sohn, um den sich Katty liebevoll kümmerte. Was für eine Ironie des Schicksals, dass sich nun ihre kleine Schwester diesem Mann und seinem Hof besonders verbunden fühlte. Sie hatte von ihrem Jahr auf dem Tellemannshof geschwärmt, als wäre ihr im Leben noch nie etwas Schöneres widerfahren. Vielleicht war das auch so, überlegte Gertrud, die ungezwungene Zeit hatte Katty nicht mehr erlebt. Als sie geboren wurde, war schon alles schwierig und ärmlich geworden.
»Gertrud! Gertrud, wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, zischte Alma sie an. »Söhst du die beiden Hörren am Tsch nbnön?«, versuchte Alma zu flüstern, aber ihre Stimme war genauso laut wie eh und je. Gertrud schaute auf und blickte in die missbilligenden Gesichter eines älteren Ehepaares. Schnell schaute sie wieder weg und wurde rot vor Verlegenheit. »Alma, lass doch diesen Unsinn«, flüsterte Gertrud, und ihr Flüstern war sogar so leise, dass Alma es nicht verstand oder zumindest so tat. »Ich mön dö böden Hörren, dröh dich nicht öm, öber dö gucken döch dö ganze Zöt ön.« Großartig, dachte Gertrud, und dabei müssen sie uns für ziemlich dumme Dinger mit Sprachproblemen halten. »Können wir jetzt gehen?«, Gertrud sprach nun extra laut, um der peinlichen Situation zu entfliehen. »Wir wollen schließlich noch bis nach Potsdam.«
»Wie kommen wir denn dahin?«, fragte Alma in einem mauligen Ton. Sie hätte gerne ein wenig geflirtet, vermutete Gertrud, und die Herren, zu denen sie inzwischen doch einenBlick riskiert hatte, schienen durchaus bereit dazu. Außerdem waren die beiden sehr elegant gekleidet.
»Wir gehen zum Bahnhof, kaufen uns eine Fahrkarte und dann werden wir wohl irgendwie nach Potsdam
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