Wir sind doch Schwestern
kommen.«
»Entschuldigung, darf ich mich vorstellen?« Einer der beiden Herren war unerwartet an ihren Tisch getreten. »Mein Name ist Karl Liechtenstein. Und das ist mein guter Freund François Cohen. Er ist Franzose und kommt aus Paris. Ich wollte ihm an diesem Nachmittag das Schloss Sanssoucis zeigen, und es wäre uns beiden ein großes Vergnügen, wenn sie uns begleiten würden. Verzeihen Sie bitte meine Aufdringlichkeit, aber ich habe gehört, dass Sie ebenfalls nach Potsdam wollen.«
Karl Liechtenstein war formvollendet in seiner Eleganz und Wortwahl, das fiel Gertrud sofort angenehm auf. Trotzdem wollte sie das höfliche Angebot ebenso höflich ablehnen. »Vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, aber …« – »… aber können wir das denn annehmen? Es wäre natürlich eine überaus große Freude«, fiel ihr Alma ins Wort, die offenbar in diesem Moment ihre Pläne für den Nachmittag festgelegt hatte.
»Also abgemacht«, sagte Liechtenstein. »Meine Droschke steht gleich da vorne. Wir wären abreisefertig.« Ohne ein weiteres Zögern zuzulassen, ging er in das Café, beglich die Rechnung für beide Tische, und die kleine Gesellschaft machte sich auf den Weg.
Gertrud war von sich selbst erstaunt. Da saß sie mit wildfremden Männern in einer Droschke, was war denn nur in sie gefahren? Und dann war einer der beiden auch noch Franzose. Vielleicht hatte einer seiner Landsleute Franz abgeschossen. Aber heutzutage versuchte man ja, sich auszusöhnen, Außenminister Gustav Stresemann und der Ministre des Affaires Étrangères, Aristide Briand, näherten die beiden Nationen einander vorsichtig an. Und wenn das auf höchster Ebene geschah, wer warsie dann, die Franzosen zu hassen. Es war auch Unsinn. Nicht die braven Männer musste man hassen, allenfalls die Politiker. Doch nun schien alles besser zu werden, Deutschland bekam plötzlich Geld aus Amerika. Selbst Gertrud spürte das Aufatmen des Landes, besonders hier in der Hauptstadt.
Als sie sich etwas entspannt hatte, wurde ihr sehr schnell bewusst, welches Glück sie mit ihrer Reisebegleitung hatten. Liechtenstein kannte Berlin wie seine Westentasche, und er hatte großen Spaß daran, seinen Mitreisenden zu erklären, welches Gebäude wann und von wem erbaut worden war. Er hatte einen Fundus an Anekdoten parat, noch aus der Kaiserzeit, und war ein begnadeter Erzähler. Die Fahrt bis Potsdam verging schnell und Gertrud hatte ihre Hemmungen längst vergessen, als sie in die Auffahrt zum Schloss einbogen. Alma flirtete vorsichtig mit François, und da sie seiner Sprache nicht mächtig war, gab sie ihr Bestes mit Gestik und Mimik. Gertrud war vollkommen in Beschlag genommen von Karl Liechtenstein. Er erzählte ihr gerade aus der Zeit Friedrichs des Großen, der eine große Vorliebe für Kultur und Wissenschaft besaß und deshalb Künstler und gebildete Leute um sich scharte, die zum Teil sogar revolutionäre Ideen vertraten wie beispielsweise Voltaire.
»Im Sommer 1750 hat Friedrich der Große Voltaire einen Brief zukommen lassen«, erklärte Karl, »der bestand nur aus einem einzigen rätselhaften Satz. Kommen Sie mit, ich male ihn für Sie auf.« Dabei zog er Gertrud am Arm, hinein in den Schlossgarten, bis er ein kleines Fleckchen Sand und einen Stock gefunden hatte. Damit zeichnete er das Rätsel nach. »Der Kaiser schrieb auf Französisch, das war damals die Sprache bei Hofe, Venez …«
»Das heißt ›Kommen Sie‹«, warf Gertrud ein. Sie liebte Rätsel und freute sich schon darauf, Karl Liechtenstein mit einer schnellen Lösung zu beeindrucken.
»Richtig. Und dann malte der Kaiser einen Bruch auf, wie in einer Rechenaufgabe. Unter dem Bruchstrich stand ein A, oberhalb des Bruchstrichs schrieb er ein P. Na, was glauben Sie, was könnte das heißen?« Er sah Gertrud belustigt an. Doch es war nicht ein Hauch von Triumph in seinen Augen. Sie wäre nicht blamiert, selbst wenn sie das Rätsel nicht zu lösen vermochte. Das gefiel ihr – und forderte sie erst recht heraus.
»Also, p geteilt durch a…, pe-a-tel«, überlegte Gertrud laut, »gibt es dieses Wort im Französischen überhaupt?«
»Nein, aber Sie sind auf dem richtigen Weg! Wissen Sie, was ›unter‹ auf Französisch heißt?«
»›unter‹ wie ›über‹?«
»Genau.«
»›über‹ heißt sur. Sur le pont d’Avignon«, Gertrud summte kurz die Melodie des berühmten Kinderliedes und musste lachen. Wann war sie das letzte Mal so ausgelassen gewesen? Es war ihr ein
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