Wir sind doch Schwestern
herumschwirrte.
»Machen Sie sich keine Sorge, Fräulein Alma, Champagner hat keine schlimmere Wirkung als ein Gläschen Sekt, es belebt den Kreislauf und prickelt auf der Zunge.«
Aus dem Gläschen war dann doch ein echtes Glas geworden, Gertrud fühlte sich beschwipst und sorglos. Einen Moment lang hatte sie noch darüber nachgedacht, dass sie auf der Hut sein sollte. Aber dann hatte Karls Charme sie hingerissen. Nach dem Aperitif machten sie sich auf den Weg ins Ambassadeur. Ein neues Ballhaus, in dem man auch essen konnte.
Sie sprachen während des Essens über Berlin und Paris, wo Karls Familie lebte, und Alma war zu Gertruds Verdruss schnell dabei, Pläne für die nächsten Ferien zu schmieden.
»Gertrud, wir fahren nach Paris! Nächsten Sommer direkt!«
»Aber nun ist erst einmal Berlin dran«, sagte Karl. »Es gibt hier noch viel zu erleben.«
»Wir haben bereits halb zehn. Es ist vielleicht langsam Zeit, sich zu verabschieden«, gab Gertrud eher halbherzig zu bedenken und war insgeheim froh, dass Alma sofort protestierte.
»Ach Gertrud, nun hör doch mal auf. Wir sind doch nicht alle Tage hier. Natürlich wollen wir noch mehr sehen, Herr Liechtenstein!«
»Na, dann kommen und staunen Sie.«
Am Kurfürstendamm ging Karl plötzlich ein paar Stufen hinunter in eine Art Keller. Unten war eine Tür, und als diese sich öffnete, hörten Gertrud und Alma laute Musik. EtwasSchnelles, ohne wirkliche Melodie. Mit den ihr bekannten Volksliedern oder klassischer Musik hatte das nichts zu tun. Gertrud fand es schrecklich.
»Das ist Jazz«, erklärte Karl, »eine Musik, die aus Amerika kommt. Am Anfang werden Sie es unrhythmisch und laut finden. Aber achten Sie auf die Pianisten und die Saxofonisten. Sie werden fasziniert sein.«
Gertrud hörte ihm kaum zu, sie traute ihren Augen nicht. Sie sah Frauen mit kurz geschnittenen Haaren oder mit halblangen, die ihnen bis zur Wange ins Gesicht fielen, wieder andere hatten einen runden Hut auf. Die Kleider waren so kurz, dass man die Knöchel sehen konnte. Sie waren in der Hüfte locker gebunden, und der Stoff war fransig, er wirkte teuer wie Seide. Das Unfassbarste aber war, dass diese Frauen rauchten. Einige hielten dazu eine Zigarettenspitze in der Hand, die mindestens einen halben Meter lang sein musste, und fast alle waren behängt mit Perlenketten.
Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatten, schaute Gertrud an sich selbst herunter. Sie fühlte sich fremd, dieser Welt nicht gewachsen, und sie wusste in diesem Moment, dass sie diese Welt heute Abend auch nicht mehr erobern wollte. Vielleicht ein anderes Mal, das hielt sie inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen, aber alles zu seiner Zeit.
»Bitte Karl, lassen Sie uns gehen. Es war schön, diesen Nachtclub gesehen zu haben. Nur gehören wir nicht hierher.« Nicht einmal Alma hatte etwas dagegen einzuwenden.
»Natürlich«, sagte Karl. »Ich wollte Ihnen auch nur gezeigt haben, was unterhalb von Berlin so alles geschieht, wenn vernünftige Menschen den Abend beenden. Lassen Sie uns noch einen Kaffee im Adlon einnehmen. Dann bringen wir Sie nach Hause. Nicht allerdings ohne das Versprechen auf ein Wiedersehen am morgigen Nachmittag.«
Am nächsten Tag war Gertrud auf eine Enttäuschung gefasst. Sie hatte schon ein paar Mal erlebt, dass man sich traf, verstand, es am nächsten Tag aber einfach nicht mehr möglich schien, an die Leichtigkeit des Vorabends anzuknüpfen. Aber dieses Mal lag sie falsch. Karl hatte immer etwas zu sagen, zu fragen oder zu plaudern. Es war, als würden über seinen Himmel keine Wolken ziehen.
Er zeigte ihnen das Berliner Leben rund um Gedächtniskirche und Kurfürstendamm, schließlich gingen sie ins Kino. Es gab »Das Cabinet des Dr. Caligari«. Der Film galt als gruselig, aber Gertrud und Alma waren nicht ängstlich. Natürlich hatten sie längst von diesem Film gehört und von den ungeheuerlichen Bildern darin. Bei ihnen zu Hause gab es bisher kein Kino, man baute in Essen an einem, aber das würde noch eine Weile dauern. Und so ließen sie sich diese Chance nicht entgehen.
Als die kleine Gesellschaft aus dem Kino kam, dämmerte es bereits, Gertrud und Alma gingen untergehakt durch die Straßen und freuten sich über den leichten Schauder, den sie aus dem Film mitgenommen hatten. An jeder Häuserecke tat Alma so, als vermute sie einen Mörder dahinter, und klammerte sich übertrieben an Gertrud. Karl lud sie schließlich noch zu einem Abschiedsessen ins El Dorado in der
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