Wir sind doch Schwestern
Kantstraße ein, und wieder sah Gertrud, wie weit ihre Heimat und Berlin auseinanderlagen. Die Hauptstadt war einerseits verheißungsvoll, weil jeder Mensch tat, was ihm gefiel. Auf der anderen Seite war Gertrud froh, dass es in ihrem Leben Regeln gab, an die sie sich halten konnte, alte Sitten, die ihr halfen, einen geraden Weg durchs Leben zu finden, selbst wenn das manchmal Verzicht bedeutete.
Sie diskutierte eine ganze Weile mit Karl darüber, der ein glühender Verfechter der Aufklärung und ihrer Werte war. Er schwang aufrührerische Reden und Gertrud war fasziniert. Niemals hätte sie gewagt, so zu sprechen, aber dieses Denkenwar ihr nicht unbekannt. Auch ihr Vater misstraute der Kirche und glaubte an die Freiheit. Dieser Mann wäre nach seinem Geschmack.
Am Ende des Abends hauchte Karl Gertrud einen Kuss auf die Hand und versprach, aus der französischen Hauptstadt zu schreiben.
Einige Monate später, nach dem fünften Brief, kannte sie Paris ungefähr so gut wie Empel oder Xanten. Karl war ein großartiger Briefeschreiber. Er wohnte bei Familie Cohen, in der fünften und sechsten Etage des Hauses Nummer elf an der berühmten Place des Vosges, im Zentrum des Pariser Künstlerviertels, mitten im Marais. Karl beschrieb Gertrud den Platz und wie sehr er es mochte, dort am Nachmittag in den Arkaden zu sitzen und einen Kaffee zu trinken. Er erklärte, dass Heinrich IV . diesen Platz hatte bauen lassen, und erzählte dessen blutige Geschichte von der Bartholomäusnacht, in der er als Hugenotte von seiner eigenen Schwiegermutter fast ermordet worden war. Mit viel Ironie beschrieb er die Klatschgeschichten, die sich um den französischen König rankten. Er berichtete von den vielen Mätressen, von den Memoiren seiner Frau Margot und landete schließlich bei den früheren Bewohnern des Platzes wie Kardinal Richelieu oder Victor Hugo. Und spätestens da ahnte Gertrud, dass François’ Familie und vermutlich auch Karl sehr reich sein mussten.
Karl schrieb ihr von dem Ausblick, den der Eiffelturm bot, vom Sacré-Cœur, natürlich vom Louvre samt Mona Lisa und von der dramatischen Diebstahlgeschichte rund um das berühmte Gemälde, die sich ein Jahrzehnt zuvor zugetragen hatte. In seinen Briefen stellte er sich vor, wie Gertrud an seiner Seite in den mondänen Cafés säße, welche Bilder ihr im Louvre am besten gefallen könnten, kurzum, er dachte an sie, und er machte daraus kein Geheimnis.
Gertrud war geschmeichelt. Aber es war mehr als das. Sie sehnte sich jeden Tag nach der Finesse seiner Briefe, hätte gerne seine Stimme und sein Lachen gehört. Karl machte sie glücklich, und zum ersten Mal seit Franz’ Tod gestand sie sich ein, dass es da einen Mann gab, den sie sehr mochte.
Auch sie schrieb ihm lange Briefe, erzählte von ihrer Familie, ihren Schülerinnen, von Alma.
Mitte Dezember kündigte Karl an, er werde nach Deutschland zurückkommen und er sei gewillt, sie zu besuchen. Gertrud war fast vierunddreißig Jahre alt, die Attitüde eines schüchternen Mädchens hatte sie abgelegt. Ihr war klar, dass Karl ein ernsthaftes Interesse hatte. Für sie, auch das war ihr bewusst, wäre es wohl die letzte Chance, noch zu heiraten. Aber wollte sie das überhaupt? Sie hatte sich mit dem Leben als alleinstehende Frau arrangiert. Als Lehrerin hatte sie sich so viel Respekt erworben, dass sie niemand mehr allzu seltsam anguckte, man hatte sich in Xanten offenbar an das »Fräulein Franken« gewöhnt. Im Grunde fehlte ihr nichts. Möglicherweise unterschied sie sich gar nicht so sehr von diesen selbstbewussten Frauen, die sie in Berlin gesehen hatte, dachte sie manchmal. Doch sie mochte Karl, sie war fasziniert von ihm, und deshalb beschloss sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Karl konnte sich ohne Probleme einen Aufenthalt im Hotel van Bebber leisten. Sollte er tatsächlich kommen, würde sie ihm Xanten zeigen. Er würde ihre Familie kennenlernen, und dann wollte sie sich auf ihr Gefühl und den Familieninstinkt verlassen.
Karl kam am 21. Dezember in Xanten an. Er hatte ein Zimmer im noblen Hotel van Bebber bezogen und kundgetan, dass er eine Weile bleiben würde. Gertrud war vom Datum seiner Ankunft irritiert. Würde er denn nicht mit seiner Familie Weihnachten feiern wollen? Sie würde das Thema nicht von sich aus anschneiden, entschied sie, vielleicht riss die Frage danach alte Wunden auf, das wollte sie nicht riskieren. Er würde schon von selbst
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